Zum Briefwechsel von Rosa Luxemburg (Teil 2)

Rosa Luxemburg nahm den Tod im Klassenkrieg bewusst in Kauf. Es wurde nicht gesagt, nicht geschrieben, nicht künstlerisch zum Ausdruck gebracht. Aber stand die Oktoberrevolution nicht insgeheim unter der Feststellung von Karl Marx: Meine im Kapital angewandte Methode ist wenig verstanden worden?

Historiker beachten dies in der Regel nicht, suhlen sich im Faktensalat herum, daher die Bredouille, die Schwierigkeit mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Historiker sind heute mit der Hand abzuzählen, die in der Lage sind, das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Substanz mit allen seinen Ornamenten wissenschaftlich prachtvoll zur Entfaltung zu bringen. Chronologisch ist es einfach, der Imperialismus ist im Jahr 1900 ausgereift, tritt mit dem Jahrhundertwechsel auf die Bühne der Weltgeschichte, er hebt die Warenproduktion nicht auf, fördert diese durch Kapitalexport, und in der Ware — stecken zwei Weltkriege, einen hat Rosa Luxemburg, ein Sensibelchen, erleben müssen. 

Und bei der Entfaltung der Depression kam noch eine weitere Schrulle Luxemburgs hinzu, festgebissen hatte sie sich in die These, dass die einzige internationale Wirkung der Oktoberrevolution durch Brest eine „gewaltige Machtstärkung des deutschen Imperialismus“ sei. Die Oktoberrevolution habe den Weltkrieg verschärft und daran war in erster Linie das deutsche Proletariat schuld. Es trug die Schuld für Millionen und Abermillionen Kriegstote, die als Kanonenfutter fielen, auch junge Menschen darunter, deren

„Menschenblut wie Jauche“ 
(Rosa Luxemburg, Der Katastrophe entgegen, Spartacus Nr. 9 vom Juni 1918, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 4, Berlin,1987, 380ff.)

verspritzt wurde.

Junge Menschen über die Schlachtfelder in den Kriegstot hetzen, darin besteht ja die ganze Staatskunst der ultraperversen SPD. Rosa lehnte Terror als politische Waffe ab und fragte, warum ist Dserschinski so grausam? Das waren trübe Gedanken einer Oberlehrerin Rosa Luxemburg an ihrem Lebensende, die sie nicht für sich behielt und die sie mit Karl Kautsky teilte.

Sie steigert sich in eine Beschimpfung des revolutionären deutschen Subjekts, spricht und schreibt von einem Kadavergehorsam des deutschen Proletariats und das Schlimme ist, sie ist im Recht. Sie ist im Recht, wenn sie betont, dass die deutsche Arbeiterklasse es verdient habe,

„mit Peitschen und Skorpionen gezüchtigt“.
(a.a.O.,380f.).

zu werden. In der Sekundärliteratur zu Luxemburg wird es nicht deutlich ausgesprochen, sowohl die SPD als auch die deutsche Arbeiterklasse insgesamt waren in ihren Augen stinkende Leichname, die den ganzen Sozialismus wie eine schlecht gelernte Lektion vergaßen. In einem Spartakusbrief spricht sie vom unerschütterlichen Stumpfsinn der deutschen Volksmassen“. Und man ist geneigt, Clara Zetkin zu glauben, dass Rosa Luxemburg das Verhältnis der russischen Massen zur Partei Lenins nicht richtig gedeutet hätte. Das ist die Kehrseite ihres Enthusiasmus für die Massen. Es gibt einen schwarzen reaktionären Fleck in Mitteleuropa, ein finsteres Loch, in dem eine stumpfsinnige Masse brütet, sich philosophisch zergrübelt und in einen reaktionären Krieg ziehen will. Auch im August 1914 lag eine Wechselbeziehung zwischen den Massen und der kaiserlichen Führung vor, der Kaiser wusste, wie weit er in seiner Begründung des Krieges gehen konnte. Es ist zu einfach und zu wohlfeil, den Aristokraten alles Negative in die Schuhe zu schieben und die Massen als Unfehlbare anzupreisen. Ganz so einfach ist es nicht

und Jürgen Kuczynski, der berühmte DDR-Professor, hat auf diese Einseitigkeit aufmerksam gemacht.
(Vergleiche Jürgen Kuczynski, Der Ausbruch des ersten Weltkrieges und die deutsche Sozialdemokratie, Berlin, 1957).

Eine gewisse Logik ist nämlich auch hier vorhanden. Wenn Deutschland das klassische Land der Konterrevolution ist, was können Revolutionäre von einer materiell und ideologisch verkrüppelten Arbeiterklasse erwarten?

Am fünften September 1918 schrieb Ernst Meyer in einem Brief an Lenin, dass die deutschen Kommunisten leider keine größeren Aktionen zu vermelden haben, dass aber für den Winter mehr geplant sei.
(Ernst Meyer, Brief an Lenin vom 5. September 1918, in: Peter Nettl, Rosa Luxemburg, Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/M., Wien, Zürich,1968,662).

Wenn die Depression als Krankheit einmal besiegt sein wird, wird man die letzten an diese Krankheit noch Darbenden in der deutschen SPD und in ihrem Umfeld finden. Mit den Depressionen mag zusammenhängen, dass Rosa in Berlin blieb und auf eine Sicherheitsgarde, die aus der Volksmarinedivision hätte gebildet werden können, verzichtete. Depressive Menschen versagen verwaltungstechnisch, können nicht einmal frühstücken, obwohl der Hunger da ist, nur diesem Versagen verdanken wir die einmaligen Bilder, die van Gogh in der Irrenanstalt gemalt hat. Wie er kämpfte auch Rosa Luxemburg durch kreative Arbeit gegen die Krankheit an, sie mit ihren Schriftgemälden, auch diese einmalig in brillanter Stilistik und einer die Hand der Meisterin ausweisenden Wortakrobatik.

Nur wenigen politischen Schriftstellern gelingt es, Texte so zu verfassen, dass im Hinterkopf des Lesenden die ‚Internationale‘ immer mitgesummt wird. Wahre Sprachkunst tastet nach Musik, bis sie sie berührt. Das Ende der ‚Phänomenologie‘ Hegels geht in die Neunte Symphonie über, man muss nur das richtige Auge und das richtige Ohr für diesen Text haben. Texte dieser Art sind Oasen für den müden Wanderer im Schmerz der Weltgeschichte, in denen er Erquickung findet, bevor er die Siebenmeilenstiefel wieder anzuziehen hat zum Kampf gegen eine Klassengesellschaft voller Widerstände. Dieser Übergang von Sprache und Musik aus der Emanzipationsphase der Bourgeoisie kann sich nicht wiederholen, wir sind Zeuge, in welche dunklen Sackgassen sich Rosa Luxemburg in der Periode des Imperialismus, des Niedergangs der Bourgeoisie, ihres Abfalls von ihren Idealen, verläuft.  Ein düsterer Sog ließ sie sich auf Berlin ausrichten, hier, im Zentrum des deutschen Imperialismus, galt es mehr als woanders, Begriffe zu entwirren, in dem braunen Schlamassel herumzuwühlen, den die SPD durch Abweichungen vom Marxismus angerichtet hatte. In dem Sog von Politik, Krieg und Bürgerkrieg ist es nun einmal so, dass ab einem bestimmten Punkt ein Ausscheiden aus der Gewaltspirale nicht mehr möglich ist und man von nächtlichen Dämonen vorangepeitscht wird.

Man kann das ‚Kommunistische Manifest‘ nicht einfach an der nächsten Straßenecke in den Gully werfen. Noch muss Rosa Luxemburg einige Monate durchhalten, und sie tut dies mit bewundernswerter Tapferkeit. Als man das gehetzte Reh im bürgerlichen Bezirk Wilmersdorf festnahm, war kaum noch Widerstandskraft in ihr, und dieser geschundenen Frau wurde noch ein Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen.  Das ist das Bild, das haften bleiben muss, man muss es vergrößern, für alle sichtbar, in allen Himmelsrichtungen verbreiten, seht, das ist das Gebaren der Reaktion, das ist das Gebaren der Konterrevolution, die beansprucht, unser aller Zukunft zu bestimmen und diese nur vermasseln kann. Einer der ersten Erfolge des Sozialismus wird medizinisch der Rückgang der depressiv Erkrankten sein.

Wer über Rosa Luxemburg nachdenkt, dem kommen Zweifel auf, ob ein vorbehaltloser Prolet-Kult überhaupt angebracht ist. Schon die Pariser Commune gab uns einen Hinweis. Ein Teil der Pariser Arbeiter ging mit den weißen Versaillern. Rosa  Luxemburg hätte auf diese verweisen können.  

 

Ende Teil 2/2

Autor:
Heinz Ahlreip,
26. September 2024, 06.44 h |

 

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Über Heinz Ahlreip 115 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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