In einem Brief an Luise Kautsky aus dem Gefängnis, insgesamt verbrachte Rosa Luxemburg drei Jahre und vier Monate während des ersten Weltkrieges in wechselnden Haftanstalten, erzählt Rosa Luxemburg von Elstern, denen sie am Gefängnisfenster die Weltrevolution beibringe.
„Aber zum Teufel, auch sie (die Elstern, Anmerkung d. Redaktion) werden sicher schließlich zu Scheidemann umschwenken“.
(Rosa Luxemburg an Luise Kautsky am 3. Dez 1916).
Rosa Luxemburg arbeitete im Gefängnis trotz schlechter Gesundheit, aller Widrigkeiten und Schikanen durch die Justizverwaltung (Begrenzung des Briefverkehrs) hart an sich, arbeitete sich wissenschaftlich voran, vertiefte ihre materialistische Weltanschauung (Vergleiche Anneliese Laschitza / Günter Radczun, Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 1971,81) und widmete sich ihrer großen Leidenschaft, der Botanik. Aber das war peripher, entscheidend war, dass Leo Jogisches ihr die neuesten Informationen über die politischen Entwicklungen durch die Sekretärin Jacob zukommen ließ, die seine Berichte meistens nachts wegen tagsüber stattfindender Wohnungs-durchsuchungen durch die Polizei in Geheimschrift abfasste, so dass sie politisch stets im Bilde war. Ihre Briefe aus dem Gefängnis müssen besonders sensibel gelesen werden, denn sie hatte die Zensur zu berücksichtigen, nur Decknamen zu verwenden. Sie wurde ständig beobachtet, fühlte sich wie ein Mensch ohne Haut.
„Von den insgesamt 153 Briefen aus der Feder Rosa Luxemburgs an Mathilde Jacob stammen 148 … aus den verschiedenen Gefängnissen, in denen sie inhaftiert war. Weitere bisher bekannte Briefe aus der Gefängniszeit Rosa Luxemburgs während des Ersten Weltkrieges sind gerichtet an Sonja Liebknecht (21 Briefe), Luise Kautsky (24 Briefe), Hans Diefenbach (19 Briefe) und Marta Rosenbaum u. a. (29 Briefe). Die Sammlung der Briefe an Mathilde Jacob ist also die weitaus umfangreichste“.
(Narihiko Ito, Vorwort zu: Rosa Luxemburg, Ich umarme sie in großer Sehnsucht, Briefe aus dem Gefängnis 1915 bis 1918, Dietz Verlag Nachf., Berlin Bonn, 1986,8).
Besonders aufschlussreich für ihre Haftzeit und ihre Lektüre ist hier der Bericht ihrer Sekretärin Mathilde Jacob: ‚Rosa Luxemburg und ihre Freunde durch Krieg und Revolution‘. Mathilde Jacob, die ‚gute Seele‘, ohne die Rosa Luxemburg die Haftzeit wohl nicht überstanden hätte, hebt zwei Charaktereigenschaften von Rosa Luxemburg hervor, ihre Bescheidenheit und ihre soziale Fürsorglichkeit. Antikommunistisch verhetzte Menschen waren ganz überrascht von ihrem sanften Wesen und suchten nach der persönlichen Bekanntschaft mit ihr, ihre Nähe. In ihrem Brief vom 7. Februar 1917 an Mathilde Jacob lesen wir, dass es auf ihrem Grab wie in ihrem Leben keine großspurigen Phrasen geben werde.
„Auf meiner Grabestafel dürfen nur zwei Silben stehen: ‚Zwi-zwi‘“. Das ist nämlich der Ruf der Kohlmeisen, die ich so gut nachmache, daß sie sofort herlaufen“.
(Rosa Luxemburg, Brief an Mathilde Jacob vom 7. Februar 1917, in: Rosa Luxemburg im Gefängnis, Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915 bis 1918, herausgegeben und eingeleitet von Charlotte Beradt, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1973,56).
Die Briefe an Mathilde Jacob geben viel preis aus dem Innenleben von Rosa Luxemburg. Und man findet allerlei Niedlichkeiten in ihnen: Am 21. Juni 1917 endet ein Brief mit den Wünschen:
„Ein Paar weiße Handschuhe. Und Haferflocken!“.
(Rosa Luxemburg, Brief an Mathilde Jacob vom 7. Februar 1917, in: Rosa Luxemburg im Gefängnis, Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915 bis 1918, herausgegeben und eingeleitet von Charlotte Beradt, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1973,70).
Ein Brief vom 6. September 1917 endet mit der Bitte an Mathilde, dass sie viel spazieren gehe.
„Ich umarme sie“. Am 28. Februar 1918 bittet sie um den ‚Candide‘ von Voltaire.
(Rosa Luxemburg, Brief an Mathilde Jacob vom 28. Februar 1918, in: Rosa Luxemburg im Gefängnis, Briefe und Dokumente aus den Jahren 1915 bis 1918, herausgegeben und eingeleitet von Charlotte Beradt, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1973,92).
In der Gefängnishaft übersetzte sie auch ein für sie vorzügliches Buch von Wladimir Korolenko aus dem Russischen ins Deutsche, von dem sie begeistert war: ‚Die Geschichte meines Zeitgenossen‘, dessen Publikation der Dietz Verlag aber abgelehnt hatte. Eine ihrer wichtigsten ökonomischen Schriften ist in der Haft entstanden, es ist dies der primär gegen Otto Bauer gerichtete Anhang für die ‚Akkumulation des Kapitals oder was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik‘. Sie erbringt den Nachweis, dass eine schrankenlose Akkumulation unmöglich ist, dass der Kapitalismus immer krisenanfällig zu sein hat.
Aus den Gefängnisbriefen ist auch herauszulesen, dass Rosa Luxemburgs weltanschauliche Einstellung nicht als streng atheistisch zu bezeichnen ist, sie war zu sehr Vollblutpolitikerin, Ökonomin und hatte diese Seite des wissenschaftlichen Sozialismus vernachlässigt, vielleicht vernachlässigen müssen.
Sie arbeitete unablässig politisch für die Sache der proletarischen Revolution und setzte dafür ihre Gesundheit aufs Spiel. Erschütternd ist der Bericht von Mathilde Jacob, ihre Sekretärin war bestürzt, als sie sie im Gefängnis besuchte. Immer häufiger wünschte sie das Kommen der Sekretärin, die berichtet, sie sei krank und hilflos, ließe sich nun Zärtlichkeiten von ihr gefallen, die sie sonst immer abwies, sei aber auch ausgesprochen launisch. Der Staatsanwalt hatte Angst um ihren Gesundheitszustand. Dann schrieb ihr Rosa, dass sie an seelischen Depressionen leide, es sei manchmal so schlimm, dass sie arge Befürchtungen habe. Ich lege diesen letzten Satz so aus, dass der Tod anfängt, seine schwarzen Handschuhe überzuziehen. In seinem Essay über Rosa Luxemburg bezeichnete Willy Brandt, der am Lebensende ebenfalls an Depression litt, sie nach ihrer Entlassung aus dem Zuchthaus als „eine Tote auf Urlaub“.
Sicherlich stehen Rosas Depressionen im Zusammenhang mit der sozialdemokratischen ‘Prostitution des Sozialismus‘, dass die Partei ganz wesentlich versagt hat und Handlangerdienste für den Klassenfeind ausführt. Das Fehlverhalten der SPD gehört zu den Irrationalismen, die dem Imperialismus eignen und die nur Lenin den Arbeiterinnen und Arbeitern tiefschürfend erklärt hat.
Eine himmelschreiende Verwirrung der Begriffe habe seit dem Ausbruch des Krieges in sozialistischen Kreisen Platz gegriffen,
schreibt sie im August 1917.
Das sieht sie richtig und fördert damit ihre Depressionen, die sich in einer Frauenhaftanstalt natürlich nicht erhellen. Anträge auf Entlassung aus der Haft werden generell abgelehnt, ein Niederschlag nach dem anderen, ein Rädchen im Getriebe einer Maschine, die immer dasselbe macht.
Und hier betreibt Levi, der sie persönlich kannte, Schönfärberei, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, der Frontfrau eine
„im Tiefsten ausgeglichene Seele“
(Paul Levi, Einleitung zu ‚Die russische Revolution‘, Eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlaß von Rosa Luxemburg‘, Verlag Gesellschaft und Erziehung, Berlin, 1922,44)
andichtet. Die Selbstauskunft von Rosa Luxemburg ist zu eindeutig, obwohl man in ihren Gefängnisbriefen auch lesen kann:
„… mich hat noch keiner in den Sand gesteckt, auf den, der’s kann, bin ich neugierig“.
(Rosa Luxemburg, Brief an Emanuel Worms vom 16. Februar 1917).
unterjubelt. Aber es ist nicht eine Seele, zwei Seelen sind es, die zum Faustischen treiben. Ein mit sich harmonischer Mensch kann Großes, selbst Dramatisches hervorbringen, das vorübergeht, ein in sich zerrissener Mensch bringt Bleibendes hervor, weil seine subjektive Zerrissenheit adäquat geht mit der objektiv-tragischen der Geschichte.
Der Riss, der in der bürgerlichen Gesellschaft zwischen ihr und dem Menschen geht, geht noch einmal durch den Menschen selbst. Die Depressionen werden auch gefördert durch ihre Auffassung, die bolschewistische Revolution in Russland drehe sich im Kreise, sei eine Überbaurevolution und dass deren Widersprüche vornehmlich nur durch eine revolutionäre Aktion des deutschen Proletariats gelöst werden können, innerrussisch nicht. Aber nur das italienische Proletariat hatte sich gerührt, was zu wenig war. Also: Die russische Revolution kommt nicht voran, weil die deutsche Arbeiterklasse nicht erkannt hat, dass die russischen Kollegen auch für sie kämpfen.
Sie glaubt nicht an eine substantielle Revolution, sondern an eine, die nur den Anfang bilden kann, der sich ohne Revolution in den industriellen Kernländern verflüchtigen wird. Das war die Sackgasse; statt einer gigantischen Avenue der Weltrevolution. Da können Theoretiker grübeln noch und noch.
Zur Bedeutung des deutschen Proletariats gab es für sie keine Alternative, für Trotzki, der nicht national fixiert war, musste ein westliches Proletariat her, sei es das englische, das französische oder das deutsche irgendeins von diesen, Luxemburg und Trotzki berühren sich in der Auffassung der Aussichtslosigkeit einer isoliert bleibenden russischen Revolution, in der Auffassung, dass die Oktoberrevolution als schwächliches Einzelkind der Weltgeschichte nicht wird überleben können.
Man mag darin eine Ironie der Geschichte erblicken, eine kommunistische Umwälzung im Namen der Weltgeschichte, die lange singulär blieb und sich erst durch den zweiten Weltkrieg der Nazis bis an die Elbe heranwälzte, sich durch eine Armee exportierte, die den Sozialismus im Gepäck hatte. Es wurde somit der Sozialismus dekretiert, so dass er in vielen osteuropäischen Ländern durch eine Art künstlicher Befruchtung zur Welt kam. Auf den ersten Blick hatte das etwas für sich, Analphabetismus in einem rückständigen Agrarland, „kapitalistisch noch nicht gargekocht“ (so Rosa mit einem interessanten Schlüsselzitat), die Koordinaten hätten nicht schlechter für ein proletarische Revolution mit dem wissenschaftlichen Sozialismus im Gepäck sein können. Es blieb einem Stalin vorbehalten, gegen den Strom zu schwimmen, und den Schriftgelehrten des Bolschewismus, die das markanteste Zitat von Engels aus dem Jahr 1847 gegen den Aufbau des Sozialismus penetrant vorbrachten, zuzurufen: Wenn Engels Lenins Revolution in Russland sähe, würde er ausrufen: Zum Teufel mit meinen alten Formeln, es lebe die proletarische Revolution in der Sowjetunion. Der Satz ist natürlich nichts als reine Spekulation. Für Stalin spricht, dass er die ganze Tiefe erfasste, die in Lenins Imperialismusanalyse vorlag. Auch heute wird in marxistischen Kreisen oft unzulänglich erfasst, welches Ausmaß diese Analyse einnimmt, was alles Lenin von den alten Klassikern auf den Kopf gestellt hat. Der Kapitalismus hat nicht nur ein Gesicht. Das des modernen ähnelt wenig dem klassischen des Konkurrenzkapitalismus à la Manchester.
Festgebissen hatte sich Rosa Luxemburg wie Lenin an der Sonderstellung des deutschen Proletariats, ein rotes Russland und ein rotes Deutschland seien zusammen die halbe Miete der Weltrevolution, und es konnte ihre Niedergeschlagenheit nicht abwenden, ihren Lebensverdruss nicht mildern, dass nun der Sozialismus auf den beiden rückständigsten Ländern Europas – Russland technisch, Deutschland ideologisch (Sozialdemokratismus in negativster Vollendung) – basieren sollte. Vielleicht ist in der ganzen Weltgeschichte der Würfel noch nie so bizarr gefallen wie im Oktober 1917.
Dialektik musste her, wurde dringendst bemüht, musste aufs ärgste strapaziert werden, herhalten für alle möglichen und unmöglichen politischen Konstellationen, ich verweise auf die These der Luxemburg, Hindenburg sei der Nutznießer Lenins, nicht alle hielten das aus, wurden Alkoholiker und/oder wählten den Freitod. Einmal äußert sie in einem Brief an Louise Kautsky vom 19. Dezember 1927 auch,
dass der Teufel von der Revolution profitiere.
(Vergleiche Rosa Luxemburg, Brief an Louise Kautsky vom 19. Dezember 1917).
Ende Teil 1/2
Autor:
Heinz Ahlreip,
26. September 2024, 06.44 h |
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