Hier irrte Karl Marx

Karl Marx in seinem Arbeitszimmer in London. Er verfasste gemeinsam mit Friedrich Engel das Kommunistische Manifest | ArchivPhoto

Warum Marx (und Engels) im Manifest eine falsche Revolutionsprognose bezüglich Deutschlands unterliefen.

 

Heinz Ahlreip – Autor I Redaktionsbeirat

Nach offizieller, von Lenin festgelegter Lesart gelten ‘Das Elend der Philosophie‘ und das ‘Manifest‘ als die ersten reifen Werke des Marxismus. Das ist auch nicht welterschütternd anzutasten, obwohl im Manifest eine eindeutig falsche Revolutionsprognose gestellt wird: “Auf Deutschland richten die Kommunisten ihr Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im 17. und Frankreich im 18.Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann“.
(Karl Marx, Friedrich
Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960,493).

Wie konnte es zu einer so haarsträubend falschen Aussage kommen, schickte sich Deutschland doch erst an, im Zuge einer Vorbereitung einer bürgerlichen Revolution nur erst die gepuderten Zöpfe abzuschneiden. Um diese Frage zu klären, sind folgende Texte heranzuziehen: Das ‘Manifest‘ selbstredend, ‘Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung‘ als Ausgangs- bzw. Schlüsseltext, will sagen: Von diesem Frühwerk entwickelt sich die Beantwortung der Frage, ferner die ‘Deutsche Ideologie‘, ‘Das Elend der Philosophie‘ und `Der Achtzehnte Brumaire‘. Es ist aufschlussreich, den Schluss der Marxschen ‘Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung‘ mit einem der oben bereits zitierten Schlussgedanken über die Aussichten einer kommunistischen Revolution in Deutschland aus dem ‘Manifest‘ zu vergleichen.

Im Frühwerk von 1843 heißt es: “Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt. In Deutschland ist die Emanzipation von dem Mittelalter nur möglich als die Emanzipation zugleich von den teilweisen Überwindungen des Mittelalters. In Deutschland kann keine Art der Knechtschaft gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen. Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie“.
(Karl Marx,
Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960,391)

Beide Schlussbetrachtungen korrespondieren eng untereinander, besonders der Satz: “Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen“ ist als Keim der in der deutschen bürgerlichen Revolution steckenden menschlichen Revolution zu deuten. Die Fehleinschätzung im Jahr 1847/48, Ende des Jahres 1847 (Dezember)und Anfang des Jahres 1848 (Januar) wurde das Manifest geschrieben, hängt eng zusammen mit der alsdurchgängiges Motiv zu vernehmenden äußerst tiefen Abqualifizierung des wirtschaftlich, politisch und kulturell extrem rückständigen Deutschland durch den jungen Marx. So gilt ihm die Mittelklasse nur als allgemeine Repräsentantin der Mittelmäßigkeit aller übrigen Klassen. In Deutschland ist das praktische Leben ebenso geistlos als das geistige Leben unpraktisch ist. Wir haben die Restaurationen der modernen Völker geteilt, aber nicht ihre Revolutionen. Ganz bewusst begeht Marx eine eklatante “Nestbeschmutzung“ nach der anderen über die verheerende Zurückgebliebenheit Deutschlands, deren Gründe, u. a. Niederlage der Bauern 1525 im deutschen Bauernkrieg, 30jähriger Krieg, indem auf ganzen Flächen 70 % der Bevölkerung ausgelöscht wurden, hier nur kurz erwähnt werden können. Im Hintergrund steckt die Überlegung, dass das Land und mit ihm die deutsche Arbeiterklasse und die Massen der Bauern unter dem Joch der Mittelklasse, der Philister und Krautjunker, so das Vokabular von Marx 1843, so tief in einer wirtschaftlichen, politischen und moralisch-kulturellen Krise steckt, dass zur Rettung aus der deutschen Misere nur noch eine radikale blitzartige Revolution des völlig radikalen dialektischen Polwechsels angesagt ist, alles andere muss abgesagt werden, so dass das kulturell mit Russland zusammen letzte Land Europas dessen führendes wird. Dieser radikale Umschlag lag im Denkgestus der jungen Klassiker.

Die wissenschaftliche Entwicklung von Marx verläuft zwischen Januar 1844, der Abfassung der Kritik an Hegels Rechtsphilosophie, und der Beendigung des Manifestes Januar 1848 nun so, dass er sich 1845 und 1847 über die Vertiefung in der ‘Deutsche Ideologie‘ im ‘Elend der Philosophie‘ die Kardinalbedeutung der Ökonomie gegenüber der 1844 noch im Dienst der Geschichte stehenden Philosophie erarbeitet hatte, die noch 1844 das Fundament nicht nur der Kritik an Hegel abgab, sondern als Basiswissenschaft überhaupt fungierte. Die deutsche Philosophie befreie die deutschen Philister, heißt es dort, verwandele die pfäffischen Deutschen in Menschen, heißt es dort weiter, und ganz klar: Der deutsche politische Status quo werde an der Philosophie zerschellen.
(Vergleiche Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie/Einleitung, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960,386)

Es ist eindeutig: Um die Jahreswende 1843/44 war die Philosophie für den jungen Marx noch eine irdisch-politische, revolutionär-federführende Macht. Als diese kann sie nach der Entdeckung von 1845 in der ‘Deutschen Ideologie‘ und 1847 im ‘Elend der Philosophie‘, dass die ökonomische Basis einer Gesellschaft ihren Überbau bedinge, im Manifest nicht mehr genommen werden; im Gegenteil, es liegt in ihm nun eine relativ leicht zu vernehmende Abwertung der bürgerlichen Philosophie vor.

Aber die Dialektik steht nicht stille, sie, die die Gegenseiten ineinander umschlagen lässt, war es, so dass die extrem schmerzhafte Rückständigkeit Deutschlands mit der Erbärmlichkeit an der Regierung sich wie ein Köder vor den Augen von Marx und Engels gerierte und das Tor zu einem Wunschdenken der Revolutionsphasenüberspringung, quasi zu einem deutsch-nationalem historischen Salto mortale öffnete. In der Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung steht der Satz, dass man die versteinerten deutschen Verhältnisse dadurch zum Tanzen bringen müsse, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsinge.
(a.a.O.,381).

Das wurde in weniger als zwei Monaten nach der Veröffentlichung des Manifests tatsächlich in Deutschland und weiten Teilen Europas aktuell. Marx und Engels hatten am Ende eine ganz andere Melodie im Kopf als die bürgerlichen Revolutionäre, dass nach der bürgerlich-politischen Revolution die rote, menschliche sich unmittelbar anschließe. Man kann also immer noch nicht die Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung beiseitelegen, wenn man
in ihr liest, dass nicht die radikale Revolution ein utopischer Traum für Deutschland sei, nicht die allgemein menschliche Emanzipation, sondern vielmehr die teilweise, die nur politische Revolution, welche die Pfeiler des Hauses stehenlässt
(a.a.O.,388).

Deutschland sei auserkoren, das erste kommunistische Land auf Erden zu werden. Es lag ein überschäumender Revolutionsoptimismus vor, nachvollziehbar und verständlich, auch wenn man die ja nüchtern geschriebenen Texte der ‘Deutschen Ideologie‘ und das ‘Elend der Philosophie‘ ins Feld führt, die anmahnen, ökonomische Konstellationen als primäre abwägend zugrunde zu legen. Überschäumender Optimismus lag auch bei Engels vor, er erwartete eine soziale Revolution in England ebenfalls kurz nach 1848. Die Hitze hielt auch an, als Marx bereits in London im Exil war. Es sollten erst gar nicht die Koffer ausgepackt werden, weil es in Europa doch bald wieder losgehen werde. Abkühlung brachte erst die erste internationale Industrieausstellung in London (The Great Exhibition) vom 1. Mai bis zum 11. Oktober 1851 im Hyde Park, die Marx und Engels besuchten. Hier wurde die für damalige Verhältnisse technisch ausgereifte und perfektionierte Große Maschinerie gezeigt und Marx erkannte staunend, welch ungeheures Potential an kolossalen Produktivkräften hier schlummerten. Zur angestrebten sozialistischen Großproduktion müssen diese erst zur Entfaltung gebracht werden, was natürlich keine Revolutionsabstinenz zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen beinhaltete. Die Abschlussfeier der Ausstellung fand am 15. Oktober 1851 statt.

Von Mitte Dezember 1851 bis zum März 1852 schrieb Marx am ‘Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte‘, ein Text, der uns einen Schritt nach vorn bringt, insofern er eine Präzisierung der Differenz zwischen einer bürgerlichen und proletarischen Revolutionstheorie vorlegt: “Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen

Hic Rhodus, hic salta!
Hier ist die Rose, hier tanze!“

(Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Werke, Band 8, Dietz Verlag Berlin, 1960,118). 

Mit dieser Revolutionsbestimmung wird endgültig Abschied genommen von dem absolut-idealistischen Universalismus Hegels, der 1843 in der ‘Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung` noch anklingt: In Deutschland ist die universelle Emanzipation die unerlässliche Bedingung jeder partiellen. (Vergleiche Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie/Einleitung, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960,389f.)

Während der 48er Revolution lag dies Präzisierung nicht vor. Von hier aus kann das Fazit gezogen werden: Da 1848 eine soziale Revolution sich kurz und skizzenhaft nur in der Pariser Juni-Insurrektion abzeichnete, aus der noch unmittelbar danach keine proletarische Revolutionstheorie mit der fetten Kontur des Brumaire-Textes herausgezogen werden konnte, konnten Marx und Engels im Feuer der 48er Revolution in Deutschland diese nur mit einer adäquaten bürgerlichen Revolutionstheorie begegnen, so dass der Gedanke des radikalen Weitertreibens der bürgerlichen Revolution in eine proletarische durch die Ekstase des Tages einer in Feuerbrillanten gefassten bürgerlichen Revolution nicht abwegig war.

In der 48er Revolution in Westeuropa gab es keine Aprilthesen, erst 1917 in Russland war eine als Negation der Negation erfolgreich. Die Februarrevolution negiert den Zarismus, die Oktoberrevolution die Februarrevolution.

 

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Über Heinz Ahlreip 115 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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