Hegel, Marx, Stalin, Trotzki – vom Kopf auf die Füße

Marx und Engels verneinten das idealistische Denken Hegels in der Dialektik und ergänzten es durch ein materialistisches Denken und wiesen zusätzlich auf den Klassencharakter aller Dinge

Es ist eine Binsenweisheit in der Geschichte der Philosophie und in der des wissenschaftlichen Sozialismus, dass die Materialisten Karl Marx und Friedrich Engels das dialektische Denken des Idealisten Hegel in weltanschaulicher Sicht vom Kopf auf die Füße gestellt haben.

Heinz Ahlreip – Autor I Redaktionsbeirat

Ludwig Feuerbach hatte den Grundstein des Materialismus nur im Bereich der Natur gelegt, verstand es aber nicht, die Hegelsche Dialektik materialistisch umzukehren und sowohl auf die Natur als auch auf die Geschichte anzuwenden. Aber auch Marx und Engels widerfuhr das Schicksal, vom Kopf auf die Füße gestellt zu werden, und zwar in einem entscheidenden Komplex ihrer Theorie der proletarischen Weltrevolution. Als sie 1845 die ‘Deutsche Ideologie‘ verfassten, schleuderten sie den Gedanken aufs Papier, dass sich die kommunistische Revolution nur universell ausführen könne. Das galt siebzig Jahre, bis Lenin dies zwar nicht alles umwarf, aber als alternativ die Möglichkeit des Sozialismus in einem Land in Aussicht stellte. 

In der imperialistischen Phase könnte nicht der gleichzeitige Ausbruch der Revolution in den fortgeschrittensten Ländern der Normalfall sein, sondern nur in einem Land, das nicht unbedingt zu den fortschrittlichen zu rechnen ist. Die Kette des Imperialismus wird an ihrem schwächsten Glied reißen. Damit blieb eine kettenreaktionäre Weltrevolution der deutschen Klassiker zwar als Ideal bestehen, aber es verblasste mehr und mehr zur Unwahrscheinlichkeit. Der imperialistische Weltkrieg aktualisierte unversehens die deutschen Klassiker und wir können davon ausgehen, dass von der klassisch internationalistischen Intention aus die Oktoberrevolution in Angriff genommen wurde, und zwar aus dem Grund, weil der erste imperialistische Weltkrieg, dessen Wesen Marx und Engels noch nicht kennen konnten, alles aufgewirbelt, alle kriegführenden Länder erschöpft hatte.

Alles schien zunächst gegen Lenins Plan B zu laufen. Dass dieser dann leider doch zum Zug kommen musste, das ist den größten Halunken der Weltgeschichte geschuldet, der deutschen SPD und ihren Noskes, die aktiv bei der Niederschlagung der deutschen Novemberrevolution mitwirkten. Die Beschwörung der Weltrevolution im Jahr 1917 war also nicht hinterhältig als Stimulans für das russische Proletariat gedacht und trug keineswegs nur einen rein funktionalen Charakter und war keineswegs nur von ideologischem Wert. 

Es gehört zum bürgerlichen Bildungsgut, dass Lenin im Jahr 1915 in zwei kleinen Artikeln die Theorie des singulären Aufbaus des Sozialismus unmissverständlich ausformuliert hat: Und zwar in: „Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa“ und in: „Das Militärprogramm der proletarischen Revolution“. Laut der Stalin’schen Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) findet sich diese aber bereits in Lenins Schrift von 1905: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“. Man muss halt nur genau lesen. 

Die Theorie, dass der Aufbau des Sozialismus in einem Land ein Eigengewächs Stalins sei, greift zu kurz und wurde zum Verhängnis der Trotzkisten. Stalin war fest im Gedankengut Lenins verwurzelt.  Je mehr man Stalin hier ein theoretisches Konzept andichtet, ihn aus Unwissenheit zum Erfinder der Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land stempelt, desto undurchsichtiger werden seine Verurteilungen von ehemaligen Marxisten-Leninisten, die den qualitativen Umschlag, für den Lenin in der marxistischen Theorie verantwortlich zeichnet, nicht begriffen hatten.

Sie standen auf dem Boden eines verdorbenen, sowjetfeindlichen Internationalismus, knüpften Kontakte zu konterrevolutionären Kräften im Ausland und hielten den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR für völlig aussichtslos. Sie mussten unter den Zwangsgesetzen historischer Dialektik danach trachten, Stalin und seine ihm folgenden Bolschewiki auszuschalten.

Eine aktive Diskussion und Polemik hätte das junge Sowjetsystem zweifellos ausgehalten, aber die konterrevolutionäre Front griff zur Kriminalität und Sabotage. 

Die Linie Lenin-Stalin setzte sich daraufhin durch. 

Zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution schwankten viele selbst namhafte Bolschewiken, ob man tatsächlich dem frischen innerrussischen Sowjetkonzept folgen solle, das nach ihrer Auffassung zum Scheitern verurteilt war, sollten nicht Folgerevolutionen im industriell hochentwickelten Westeuropa ausbrechen. Die Mehrheit der bolschewistischen Parteigemeinde in Russland war nach der Februarrevolution wie gelähmt.  Sie mögen im guten marxistischen Glauben gedacht haben, bis der Blitz von Lenins Aprilthesen in diesen traditionellen siebzigjährigen Gedankenboden einschlug. 1847 hatte Engels in seinen ‘Grundsätzen des Kommunismus‘ eine Revolution in einem Lande grundsätzlich ausgeschlossen.  In den Thesen Lenins war kein Schwanken mehr vorhanden, in ihnen wurde glasklar die Machtfrage gestellt und so beantwortet, dass nur die bolschewistische Partei die bürgerlich-demokratische Revolution vom Februar in eine sozialistische hinüberleiten kann, was aber nicht ohne qualitativen Bruch erfolgen konnte.  Lenin war bereit, nur mit seiner Partei allein die gesamte Macht in Russland zu übernehmen. 

Führende Theoretiker des Marxismus, zum Beispiel Plechanow in seiner Zeitung ‚Jedinstwo‘ (Einheit), bezeichneten die Aprilthesen als eine Fieberphantasie. Sie waren in Stalins Augen Anhänger eines dogmatischen, buchstabengläubigen Marxismus und als sich die alte Lenin’sche Elite zwischen 1936 und 1938 als Angeklagte vor dem Obersten Militärkollegium der Sowjetunion wiederfand, kam dem im Exil lebenden Trotzki beim Lesen der Telegramme über den Verlauf der Prozesse jedes Schriftstück wie eine Fieberphantasie vor. Er gebrauchte genau diesen Ausdruck Plechanows. Auch hier waren die Gegensätze ineinander umgeschlagen.

 

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Über Heinz Ahlreip 115 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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