Die theoretische Uhrquelle des Anarchismus

Rousseau erkannte plötzlich, dass der Mensch von Natur aus gut ist, und dass es nur die Institutionen sind, die ihn verderben. Damit war der Anarchistische Grundgedanke geboren I Photo: Videoscan YouTube

Es gibt seltene Momente in der Geschichte, da fallen überquellende Substanz und der Ausdruck dieser zusammen und es ist nicht sofort klar, auf welcher Seite der Akzent zu liegen hat.

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Heinz Ahlreip – Autor I Redaktionsbeirat

Es trug sich 1749 in einem übermäßig heißen Sommer zu. Da Rousseau in Paris kein Geld für eine Droschke hatte, ging er 12 Meilen zu Fuß, um Diderot in Vincennes im Gefängnis zu besuchen. Heißer Sommer, kein Geld, Gefängnis – alles geschieht hier zwangsläufig nach Auskunft in Rousseaus Autobiografie, alles läuft auf die Zerstörung seines Lebensglückes durch die Schriftstellerei hinaus. Unterwegs las er in der philosophischen Fachzeitschrift ‘Mercure de France‘, als sein Blick auf die diesjährige Preisfrage der Akademie zu Dijon fiel:  ‘Haben Künste und Wissenschaften zum Fortschritt der menschlichen Kultur beigetragen? Diese Frage löste eine Art Schwindel, ein quasi religiöses Erweckungserlebnis aus – Er erkannte plötzlich, dass der Mensch von Natur aus gut ist, und dass es nur die Institutionen sind, die ihn verderben. Er sah nach Selbstauskunft ein anderes Universum und wurde ein anderer Mensch. Erkenntnisse dieser Art entstehen nicht allmählich, nicht durch Grübelei, der Ausdruck der Blitzartigkeit ist hier fast auf gleicher Rangebene wie die theoretische Urquelle des modernen europäischen Anarchismus. Der Spaziergänger sieht sich in die Lage versetzt, dass er diese schrankendurchbrechende Erweckung der Menschheit durch die Schrift mitteilen muss. Er beantwortet die Frage negativ und gewinnt den ersten Preis, was dazu führt, dass er über Nacht aus einem unbekannten, obdachlosen Stadtstreicher in Paris zum bekanntesten Intellektuellen Europas wird.  Persönlich treibt das Schreiben Rousseau in die totale Einsamkeit an seinem Lebensende. Früher machte ich mir Gedanken um das Glück der Menschheit, heute sehe ich nur noch Menschenmassen blindlings hin- und hergeworfen.  Der Gedankenblitz Rousseaus überstrahlt unsere Jahrhunderte, die als Jahrhunderte der Politiküberwindung zu charakterisieren sind, und wirft gnadenlos den Schatten der Inhumanität auf die Reaktion, auf verdorbene Menschen, die zum Gehen eine staatliche Krücke brauchen und den Gesunden vorschreiben wollen, wie und wohin sie im Irrgarten der Behörden zu gehen hätten. Die Existenz von Institutionen bedeutet die soziale und politische Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Das alles will der Anarchismus durch einen militärischen Spaziergang abwerfen, der Marxismus-Leninismus systematisch durch einen Bürgerkrieg der schrecklichsten Art zum Erstickungstod bringen (Vergleiche Karl Marx, Das Elend der Philosophie, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960,182). Allerdings hatte der junge Marx noch einen anderen Denkgestus: Wo die Seele des Sozialismus hervortritt, da schleudert der Sozialismus die politische Hülle weg
(Vergleiche Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960,409).
Das ist doch noch recht anarchistisch formuliert. 

Der Anarchismus oder die Anarchie, diese nach Bakunin auch als ‘Allgemeine Destruktion‘ aufzufassen, intendiert die Zerschlagung des bürgerlichen Staates von heute auf morgen und die sofortige Verteilung der Güter nach den Bedürfnissen vorzunehmen. Geld ist am Morgen nach einer erfolgreichen Revolution verschwunden.  Der Kommunismus entsteigt wie Minerva dem Haupte Jupiters. Dazu passt, dass die Anarchisten die Ausübung von Religion schlichtweg verbieten wollen, was bereits Marx 1867 zum Anlass der Kritik an dem einem alten russischen Adelsgeschlecht entstammenden Bakunin nahm. Das hatten im XX. Jahrhundert auch Pol Pot und Enver Hodscha falsch gemacht. Auch wenn eine Revolution tief in das Fleisch der alten Gesellschaft einschneidet, das alte Gewebe ist zäh und verendet nicht nach ein paar Jubeltagen, kurz: Es ist die Dialektik, die im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen beiden Strömungen, nach anarchistischem Jargon zwischen Autoritären (Marx), (Engels hatte 1873 eine Polemik gegen die Anarchisten mit dem Titel: ‘Von der Autorität‘ verfasst) und Liberalen (Bakunin, Malatesta, Kropotkin …) liegt.

 

Hier ist der vorherige Artikel zum Thema:

Anarchismus und Sozialismus

 

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Über Heinz Ahlreip 115 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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