Im Januar 2018 gab NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg eine einzigartige Pressekonferenz mit Angelina Jolie.
Von Lily Lynch – 23. Mai 2023 |
Während InStyle berichtete, dass Jolie «ein schwarzes schulterfreies Etuikleid, ein passendes Capelet und klassische Pumps (ebenfalls schwarz) trug», gab es einen tieferen Grund für dieses Treffen: sexuelle Gewalt im Krieg.
Die beiden hatten gerade gemeinsam einen Artikel für den Guardian mit dem Titel «Why NATO must defend women’s rights» verfasst. Der Zeitpunkt war bezeichnend. Auf dem Höhepunkt der #MeToo-Bewegung war das mächtigste Militärbündnis der Welt zu einem feministischen Verbündeten geworden. Jolie und Stoltenberg schrieben:
«Die Beendigung der geschlechtsspezifischen Gewalt ist eine wichtige Frage des Friedens und der Sicherheit, aber auch der sozialen Gerechtigkeit. Die NATO kann bei diesen Bemühungen eine führende Rolle spielen.»
Dies war ein neues und fortschrittliches Gesicht für die NATO, das gleiche, mit dem sie seitdem einen Grossteil der europäischen Linken verführt hat. Zuvor mussten die Atlantiker in den nordischen Ländern Krieg und Militarismus an eine weitgehend pazifistische Öffentlichkeit verkaufen. Dies gelang zum Teil dadurch, dass die Allianz nicht als räuberisches, kriegsbefürwortendes Militärbündnis, sondern als aufgeklärtes, «progressives» Friedensbündnis dargestellt wurde.
Timothy Garton Ash schrieb 2002 im Guardian: «Die NATO ist zu einer europäischen Friedensbewegung geworden», in der man sehen könne, wie John «Lennon auf George Bush» trifft. Heute hingegen haben Schweden und Finnland nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine ihre langjährige Tradition der Neutralität aufgegeben und sich für eine Mitgliedschaft entschieden. Die NATO wird als ein Militärbündnis und die Ukraine als ein Krieg dargestellt, hinter denen selbst ehemalige Pazifisten stehen können. (…)
Die Jolie-Kampagne markierte in mehrfacher Hinsicht eine dramatische Wende in dem, was Katharine A.M. Wright und Annika Bergman Rosamond «das strategische Narrativ der NATO» nennen. Erstens setzte das Bündnis zum ersten Mal auf die Macht eines prominenten Stars und verlieh damit seiner unscheinbaren Marke elitären Glamour und Schönheit. Jolies Starpower bedeutete, dass die verführerischen Bilder der Veranstaltung ein unpolitisches Publikum erreichten, das wenig über die NATO wusste.
Zweitens schien die Partnerschaft eine Ära einzuläuten, in der Frauenrechte, geschlechtsspezifische Gewalt und Feminismus in der NATO-Rhetorik eine wichtigere Rolle spielen würden. Seitdem und insbesondere in den letzten zwölf Monaten haben sich telegene weibliche Führungspersönlichkeiten wie die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock und die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas zunehmend als Sprecherinnen eines aufgeklärten Militarismus in Europa profiliert. Das Bündnis hat auch sein Engagement für die Populärkultur, neue Technologien und junge Influencer intensiviert. (…)
Keine politische Partei in Europa ist ein besseres Beispiel für den Wandel vom militanten Pazifismus zum glühenden Pro-Kriegs-Atlantizismus als die deutschen Grünen. Die meisten der ursprünglichen Grünen waren Radikale während der Studentenproteste von 1968, viele hatten gegen amerikanische Kriege demonstriert. Die frühen Grünen setzten sich für den Austritt Westdeutschlands aus der NATO ein.
Doch als die Gründungsmitglieder ins mittlere Alter kamen, begannen sich in der Partei Risse zu bilden, die sie eines Tages zerreissen sollten. Zwei Lager begannen sich herauszubilden: Die «Realos» waren die gemässigten Grünen, politisch pragmatisch. Die «Fundis» waren das radikale, kompromisslose Lager. Sie wollten, dass die Partei auf jeden Fall ihren Grundwerten treu bleibt.
Die Fundis waren der Meinung, dass ein Austritt Westdeutschlands aus dem Bündnis dem europäischen Frieden am besten dienen würde und tendierten zur militärischen Neutralität. Die Realos hingegen glaubten, dass Westdeutschland die NATO brauche. Sie argumentierten sogar, dass ein Austritt die Sicherheitsfragen wieder in die Hände des deutschen Nationalstaates legen würde und die Gefahr bestünde, dass der militaristische Nationalismus wieder aufflammen würde.
Ihre NATO war ein postnationales, kosmopolitisches Bündnis, das zahlreiche Sprachen sprach und unter einer Vielzahl von Flaggen stand, um Europa vor den zerstörerischsten Impulsen Deutschlands zu schützen. Aber die NATO-Mitgliedschaft am «Ende der Geschichte» war eine Sache. Dass Deutschland wieder in den Krieg zieht – das grösste Tabu nach dem Zweiten Weltkrieg – war etwas ganz anderes.
Der Kosovo hat alles verändert. Im Jahr 1999 – dem 50. Jahrestag der Nato-Gründung – begann das Bündnis eine Entwicklung, welche die Wissenschaftlerin Merje Kuus eine «diskursive Metamorphose» genannt hat. Aus dem reinen Verteidigungsbündnis, das es während des Kalten Krieges war, wurde ein aktives Militärbündnis, das Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Frieden und Freiheit weit über die Grenzen seiner Mitgliedsstaaten hinaus verbreiten und verteidigen wollte. Die 78-tägige Bombardierung der Reste Jugoslawiens durch die NATO, angeblich um Kriegsverbrechen der serbischen Sicherheitskräfte im Kosovo zu stoppen, sollte die deutschen Grünen für immer verändern. (…)
Nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat die deutsche Aussenministerin der Grünen, Annalena Baerbock, das Erbe Joschka Fischers fortgesetzt, indem sie Länder mit einer Tradition der militärischen Neutralität beschimpfte und sie aufforderte, der NATO beizutreten. Sie berief sich dabei auf Desmond Tutus Aussage: «Wer sich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhält, hat sich auf die Seite des Unterdrückers gestellt.»
Und die Grünen haben sogar für ihre eigenen verstorbenen Mitglieder zu sprechen versucht und ihnen Worte in den Mund gelegt. Darunter war auch Petra Kelly, eine Antikriegsikone und langjährige Verfechterin der Blockfreiheit, die 1992 starb. Letztes Jahr schrieb die Mitbegründerin der Grünen, Eva Quistorp, in der taz einen imaginären Brief an Petra Kelly. Der Brief greift Kellys moralische Positionen auf und verkehrt sie ins Gegenteil, um die Kriegsbefürwortung der Grünen zu rechtfertigen. Quistorp will uns glauben machen, dass Kelly, wenn sie heute noch leben würde, eine NATO-Befürworterin gewesen wäre. An die längst verstorbene Kelly gewandt, behauptet Quistorp: «Ich wette, Sie würden schreien, dass radikaler Pazifismus Erpressung möglich macht.»
Anfang dieses Jahres hat auch das deutsche Auswärtige Amt als jüngstes von mehreren europäischen Aussenministerien eine neue «Feministische Aussenpolitik» vorgestellt. Diese neue Ausrichtung, die auch von Frankreich, den Niederlanden, Luxemburg und Spanien übernommen wurde, verleiht dem kosmopolitischen Militarismus einen faux-radikalen feministischen Anstrich und öffnet das Feld von Krieg und Sicherheit für Frauenrechtsaktivisten. Nüchterne feministische Führerinnen werden als ideales Gegenstück zu autoritären «starken Männern» dargestellt. (…)
Merje Kuus schrieb, dass die NATO-Erweiterung eine «zweifache Legitimationsstrategie» beinhalte. Erstens wird die Allianz als gewöhnlich und unauffällig, als langweilig und alltäglich dargestellt, und zweitens als über jeden Vorwurf erhaben, als lebenswichtig und absolutes moralisches Gut. Dies führe dazu, dass die NATO gleichzeitig banalisiert und verherrlicht werde: Sie werde so bürokratisch, dass sie nicht zur Debatte stehe, und so «existentiell und wesentlich», dass sie über der Debatte stehe. (…)
Nach jahrzehntelangem Widerstand der Bevölkerung gegen das Bündnis scheint die NATO über der Demokratie zu stehen. Wie Kuus schreibt, bedeute dies jedoch nicht, dass das Bündnis einer Gesellschaft aufgezwungen werde. Das Ziel sei vielmehr, es «in die Unterhaltung, die Bildung und das staatsbürgerliche Leben im weiteren Sinne zu integrieren».
Beweise dafür gibt es überall. Im Februar veranstaltete die NATO ihr erstes Gaming-Event. Ein junger Angestellter der Allianz schloss sich dem beliebten Twitch-Streamer ZeRoyalViking an, um «Among Us» zu spielen und beiläufig über die Gefahr von Desinformation für die Demokratie zu sprechen. Mit dabei war auch die Bergsteigerin, Influencerin und Umweltaktivistin Caroline Gleich.
Während ihre Astronauten-Avatare durch ein Cartoon-Raumschiff navigierten, lobten sie die NATO in höchsten Tönen. Am Ende der Veranstaltung verwandelte sich der Stream in eine Rekrutierungsaktion: Der Mitarbeiter der Allianz sprach über die Vorzüge seines Jobs und ermutigte die Zuschauer, auf der NATO-Website nach Stellenangeboten in Bereichen wie Grafikdesign und Videobearbeitung zu suchen.
Die Veranstaltung war Teil der Nato-Kampagne «Protect the Future». In diesem Jahr gab es auch einen Graphic-Novel-Wettbewerb für junge Künstler. Das Bündnis warb auch um Dutzende von Influencern mit einer grossen Fangemeinde auf TikTok, YouTube und Instagram und holte sie in das Hauptquartier in Brüssel. Andere Influencer wurden zum letztjährigen NATO-Gipfel in Madrid entsandt, wo sie gebeten wurden, Inhalte für ihr Publikum zu erstellen.
Die europäische Linke wurde von dieser Show völlig in den Bann gezogen. Nach dem Vorbild der deutschen Grünen haben die grossen Linksparteien die militärische Neutralität und die Ablehnung von Kriegen aufgegeben und treten nun für die Militärallianz ein. Das ist eine verblüffende Umkehrung. Während des Kalten Krieges organisierte die europäische Linke Massenproteste mit Millionen von Teilnehmern gegen den US-geführten Militarismus und die Stationierung von Pershing-II und Marschflugkörpern durch die NATO in Europa.
Heute ist kaum mehr als die ausgehöhlte radikale Rhetorik übrig geblieben. Da es in Europa kaum noch Widerstand gegen die NATO gibt und sich das Bündnis schleichend über den euro-atlantischen Raum hinaus ausdehnt, ist seine Hegemonie inzwischen fast absolut.
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Lily Lynch ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie lebt in Belgrad.
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