DIE ARBEITERKLASSE BEFREIT SICH SELBST

Nur die Arbeiterklasse kann sich selber befreien.

1842 setzte der junge Friedrich Engels seine vierjährige Kaufmannslehre in Manchester fort und beendete sie 1844 dort. Eine Frucht dieses Aufenthaltes war u.a. das bahnbrechende, erkenntnisreiche, 1845 erschienene Buch ‘Die Lage der arbeitenden Klasse in England‘, ein die marxistische Soziologie begründendes Schlüsselbuch.

 

Heinz Ahlreip – Autor I Redaktionsbeirat

Engels saß im Fokus des aufstrebenden Kapitalismus, er erkannte die radikalen inhumanen Gebrechen des ganzen Systems und vor allem studierte er die Arbeiterbewegung nicht wie die bürgerlichen Gelehrten und utopischen Sozialisten nur aus Büchern, sondern er lebte und wohnte wochenlang unter den von vornherein Degradierten. Wie will man heute ein neue Erkenntnisse bringendes Buch über, sagen wir Obdachlosigkeit schreiben, ohne wochenlang unter Obdachlosen vegetiert zu haben?

Das aber ist die Pflicht der wissenschaftlichen Sozialisten, die sich stets den Schattenseiten des kapitalistischen „Paradieses“ zuzuwenden haben;

die Bürgerlichen, die das Geld für längere Flugreisen haben, mögen über den Karneval in Rio schreiben. 

Zwei für den Fortgang des wissenschaftlichen Sozialismus schwergewichtige Erkenntnisse stechen hervor: In Deutschland hatte der an der Universität Philosophie lehrende frühere Anarchist, Rousseau-Verehrer und Gefolgsmann der Revolution von 1789 Hegel besonders in seiner Rechtsphilosophie einen religiös untermauerten Staatskult emporgezüchtet, der den Staat zur steuernden Ursache des Lebensinhaltes der Menschen glorifizierte. Es sei der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat sei, sein Grund sei die Gewalt, der sich als Wille verwirklichenden Vernunft. So umschreibt ein Idealist eine Ausbeutungsmaschine. Der junge Engels drehte diesen Humbug bzw. diesen Verrat an den Jugendidealen um,

nicht der Staat bedingt die bürgerliche Gesellschaft, diese ist die Ursache,

er bloß Wirkung. Dass dies keine unwichtige Korrektur an einer verschrobenen idealistischen Staatstheorie sein kann, leuchtet unmittelbar ein. 

Noch gravierender, weil monumental, ist die Erkenntnis, dass nur das Proletariat sich selbst befreien wird. Das war ein atemberaubender Durchbruch in eine neue Dimension des wissenschaftlichen Sozialismus, selbst für die radikalsten Utopisten galt das moderne Proletariat nur als die leidendste Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, der von klassenfremden Elementen geholfen werden muss, selbst aber keinen Ausweg finden kann. Das war ein Ausdruck ihrer Bücherweisheit und Überbau-Fixiertheit. In diese Art und Weise kann die Bourgeoisie gar nicht die Stimme der Sklaverei erheben, sie ist nicht die Klasse, die Klassenkampf und Ausbeutung für immer, also weltgeschichtlich aufheben kann. Der junge Engels wird als Fünfzigjähriger seine Bestätigung erhalten:  Die Pariser Commune war eine Regierung der Arbeiterklasse, Ausdruck eines Bürgerkrieges der hervorbringenden Klasse gegen die aneignende. Stalin wird nach der Oktoberrevolution sagen,

dass vor allem die Söhne der Not und der Entbehrung Mitglieder der Partei Lenins sein müssen.

Das Wort ‘Monumentalerkenntnis‘ ist meines Erachtens dem Wort ‘Fundamentalerkenntnis‘ vorzuziehen, man braucht nur ein paar, kleine, kurze Schritte in die falsche Richtung zu tun und schon befindet man sich außerhalb des Systems des wissenschaftlichen Sozialismus. Das Proletariat befreit sich selbst. Im gleichen Jahr, in dem die ‘Lage der arbeitenden Klasse in England‘ erscheint, schreiben Marx und Engels in der ‘Heiligen Familie‘, dass die Volksmassen eine treibende Kraft der Geschichte sind. Das Elend kippt massenhaft um. 

Im Gegensatz zur bürgerlichen Aufklärung ist der Marxismus-Leninismus eine in sich geschlossene, materialistisch-dialektisch folgerichtige Revolutionstheorie. Es kann kein Zufall sein, dass die ‘Geschichte der KPdSU (B)‘ der Stalin-Ära zur Schlussfolgerung hat, sich niemals von den Massen zu entfernen. Die Bourgeoisie der Feudal- und die der Kapitalzeit konnten in einer permanenten Bürgerkriegsatmosphäre kein Vertrauen in die Massen, in den „Pöbel“ haben. Fünf politisch denkende Aufklärer erteilen hier Auskunft: Holbach, dessen atheistisches Buch ‘System der Natur‘ aus dem Jahr 1770 von katholischer Seite als das schlimmste der Aufklärung galt, schloss von Charakterdefiziten Einzelner auf die Schlechtigkeit des politischen Systems. „Die Völker verdanken ihr Unglück der Unklugheit einer kleinen Anzahl von verkommenen Menschen“.
(Holbach, Ethocratie, Amsterdam, 1776,12)

Das ist eine bloße Meinung. Voltaire misstraut dem Pöbel, man müsse ihm durch ein Gottesgespenst Angst einjagen. Rousseau schleicht 1742 um Paris herum und weiß nicht so recht, ob er sich überhaupt auf diesen Moloch einlassen soll. Dann der entscheidende falsche Schritt, er passiert die Stadtgrenze, stößt zu den Enzyklopädisten, zu den gebildetsten Europäern und muss feststellen, dass sie aufeinander losgehen wie wilde Tiere. Irgendetwas an der Erziehung muss falsch gewesen sein. Unter einem Schock stehend verfasst er eines der wohl wichtigsten Bücher der bürgerlichen Aufklärung überhaupt, den 1762 veröffentlichten Erziehungsroman Émile. Die Pädagogik als revolutionäre Praxis wird zur Schlüsseldisziplin der Aufklärung, durch sie sollen die gesellschaftswissenschaftlichen Halbheiten, ihre Unzulänglichkeiten kompensiert werden, sie soll abrunden, auch überbrücken zwischen Wirklichkeit und Vernunft.  Die bürgerliche Aufklärung vertrat nun mal die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen.

Der Pädagoge repariert an der Diskrepanz zwischen dem Ideal einer vernünftig sich gestaltenden bürgerlichen Gesellschaft und der Mittelmäßigkeit der alltäglichen stagnierenden Misere. Im pädagogischen Wirken Condillacs wird das revolutionstheorielose Programm der bürgerlichen Aufklärung, den Feudalismus als ein Erziehungsproblem zu überwinden, besonders deutlich: Condillac hatte sich während seines Italienaufenthaltes 1758 bis 1767 die Stelle des Erziehers des Prinzen von Parma, eines Enkels des französischen Königs, ergattert und nun glaubten die Aufklärer durch die Einsicht eines von ihnen abgerichteten vernunftbegabten Royalisten den Völkern ihre Konzepte unterjubeln zu können. Kant steuerte auch was dazu bei: Unpässlichkeiten im alltäglichen Produktionsprozess nach Feierabend zu überdenken und an die entsprechen preußischen Behörden Friedrichs einen Artikel mit Verbesserungsvorschlägen einzureichen. Kurz: Die Bourgeoisie kann den Völkern der Welt in Sachen Theorie der Revolution nichts, aber auch rein gar nichts beibringen.  Alles hängt ab von der weisen Einsicht eines Monarchen. Gerade Holbach, der Erzatheist und Erzmaterialist, allerdings auf mechanischer Grundlage, Verfasser brillanter Enzyklopädie-Artikel im naturwissenschaftlichen Sektor, zeigt eine Hilflosigkeit bei einer gesellschaftswissenschaftlichen Thematik an, als habe man ihm jahrhundertelang in seine Seele eingebrannt, es sei unmögliche, dass die Mehrheit der Armen sinnvoll über die Minderheit der Reichen herrschen kann. Er geht stets davon aus, dass die Mehrheit der Völker sich nicht selbst befreien könne. Für ihn sind diejenigen, die die Völker regieren, die einzigen, die die Völker von ihren Lastern und Vorurteilen befreien können. In seinem ‘Système sociale‘  ruft er die “Beherrscher der Welt“ an: ‘Euch kommt es zu, die Menschen zu erziehen … nur ihr könnt die Völker zur Vernunft bringen‘. Dagegen ist die dritte These über Feuerbach gerichtet: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren“.
(Karl Marx, Thesen über Feuerbach, Werke, Band 3, Dietz Verlag Berlin, 1960,5)

Wenn der die Trennung von Hand- und Kopfarbeit festschreibende Holbach vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert werden, so dass sie sich dereinst selbst befreien können, sondiert er die Gesellschaft in erziehungsberechtigte Fürsten und zu gehorchende Landbauern. 

Selbst Rousseau gerät mit seinem ebenfalls wie der Émile 1762 publizierten Gesellschaftsvertrag in eine Sackgasse. Im 15. Kapitel seines politischen Hauptwerkes muss er ausführen, dass Freiheit und Sklaverei sich mitunter ergänzen: „Freiheit läßt sich also nur mit Hilfe von Knechtschaft aufrechterhalten? Vielleicht. Die beiden äußersten Gegensätze berühren sich. Alles, was nicht durch die Natur begründet ist, hat seine Nachteile, und die staatsbürgerliche Gesellschaft genauso wie alles andere. Man ist manchmal in der unglücklichen Lage, daß man seine Freiheit nur auf Kosten fremder Freiheit behauptet, und daß der Staatsbürger nur vollkommen frei sein kann, weil der Sklave vollkommen Sklave ist“ Die bürgerliche Gesellschaftstheorie, verfasst zu einer Zeit, in der das Proletariat in einem kleinbäuerlichen Land noch nicht in seiner Klassenpotenz sichtbar war, ist als Freiheitstheorie gescheitert. Der mechanische Materialismus, dessen Enge Diderot als erster erspürte, blockierte Lösungen liberaler Art, denn dieser nimmt uns in eine Art Kausalhaft. Descartes traute sich noch nicht, eingeborene Ideen zu verwerfen, Locke ging weiter, der Verstand des Menschen sei bei seiner Geburt eine ‘tabula rasa‘, nichts in ihm, was nicht vorher in der Wahrnehmung war. Condillac beseitigte letzte Inkonsequenzen Lockes. Helvétius ging 1758 in seinem Buch ‘Vom Geist’, ein ganz unpassender Titel, soweit, dass wir einzig und allein nur das sind, wozu uns die uns umgebenden Gegenstände gemacht haben.  Gegen die Gefahr des darin liegenden Fatalismus opponiert die dritte These über Feuerbach: dass die Umstände von den Menschen verändert werden. Wir sind keine Spielbälle fremder Mächte, keine Umweltprodukte, diese können Völkern in ihrem Emanzipationskampf nicht vorangehen, da sie sich nicht selbst befreien können. Der mechanische Materialismus, dem es an Reziprozität mangelt, muss dynamisiert werden, auf dass die Gegensätze ineinander umschlagen.

Über Heinz Ahlreip 77 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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