DIE SOGENANNTEN MOSKAUER PROZESSE

Erst als Anhänger Trotzkis sich nicht mehr mit der Polemik der unterschiedlichen Auffassungen begnügte, sondern kriminelle Wege bestritt, musste die KPdSU reagieren

Es stimmt einfach nicht, dass Stalin die Konterrevolution im Lande Lenins zunehmend nur mit der politischen Geheimpolizei bekämpft und die ideologische Mobilisierung der Massen vernachlässigt habe. Also: Mobilisierung der politischen Geheimpolizei gegen die Bürokratie, statt diese mit und durch die Massen zu bekämpfen – das wird Stalin von der MLPD vorgeworfen.

Heinz Ahlreip – Autor I Redaktionsbeirat

Dass die Prozesse gegen die Armeeführung geheim bleiben mussten, versteht sich von selbst; als aber die berühmten von Trotzki angestachelten Terroristen zwischen 1936 und 1938 in Moskau vor Gericht standen, da waren diese Prozesse öffentlich, da war die politische Geheimpolizei außen vor, das bestätigte der US-Botschafter in Moskau, der gelernte Jurist Joseph Edward Davies, der als Zuschauer an ihnen teilnahm. Gewiss kein Bolschewik, bestätigte er die juristische Korrektheit dieser Prozesse. Davies erklärte die Angeklagten zu „eingestanden verbrecherischen Menschen“, die sich einer Verschwörung gegen die Regierung schuldig gemacht hätten. „1941 gab es in Rußland keine Fünfte Kolonne – alle waren erschossen. Die Säuberung hatte das Land gründlich gereinigt und von Verrat befreit“.

1. Das schreibt 1943 ein Jurist und Diplomat, der in der Sowjetunion bis zum Oktober 1941 die Interessen der Bonzen der Vereinigten Staaten von Amerika wahrgenommen hatte.  Ich möchte hier von einem Kronzeugen sprechen, der ein objektives Urteil gesprochen hat. Die Reinigung, von der Davies spricht, war 1938 beendet; ein Jahr später brach am 1. September der Krieg aus. Davies war den antikommunistischen Falken in Washington ein Dorn im Auge. George Frost Kennan, später im Auftrage Trumans einer der Architekten der gegen die Sowjetunion gerichteten Containment-Politik

2., diffamierte ihn bereits am 25. Februar 1938 in einem Artikel, der im ‚The New Yorker‘ abgedruckt worden war, als einen Botschafter, „who knew nothing about Russia and had no serious interest in it“.

3. Und das soll man glauben? Genauso soll man glauben, dass die Moskauer Angeklagten allesamt unschuldig waren. Aber der Kronzeuge ist hier nicht einmal entscheidend, entscheidend ist: Vor allem aber fanden während der Prozesse große Demonstrationen in Moskau mit Beteiligung von Aktivisten aus der Stachanowbewegung statt, in denen die Volksmassen die Todesstrafe für die Verräter forderten. Die sogenannten ‚Moskauer Prozesse‘ gegen entartete Oktoberrevolutionäre, die Reinigungen der bolschewistischen Jakobiner untereinander, fanden in einem spezifischen Milieu statt, das umgrenzt wurde von der Stalinschen Verfassung von 1936, in der das Recht auf Arbeit verankert war, und der Stachanowbewegung. Beides waren Massenbewegungen. Diese Zusammenhänge: Stachanowbewegung – Verfassungsdiskussion – Überwindung der Arbeitslosigkeit und des Analphabetismus – Moskauer Prozesse, so offensichtlich sie sind, werden nicht gesehen, wenn man eine proletarische Revolution personalisiert und auf den Personenkult hereinfällt, der zwar auch thematisiert werden muss, aber für eine Klassenanalyse und für die Dialektik von Revolution und Konterrevolution peripher zu bleiben hat. Wir dürfen uns nicht in den untauglichen Netzen verheddern, mit denen bürgerliche Historiker das Wesen der Oktoberrevolution einfangen wollen. Mehr als alle anderen Ereignisse müssen wir Revolutionen als Massenbewegungen deuten, um nicht den Fährten von Historikern zu folgen, die ihren Treitschke (Männer machen Geschichte) noch nicht überwunden haben. Zur Erörterung des Verfassungsentwurfes gab es zirka eine halbe Millionen Diskussionstreffen, in denen zirka fünfzig Millionen Staatsbürger involviert waren.

4. Im Prozessaal im Moskauer Gewerkschaftshaus saßen Stachanowbrigaden auf den Zuschauerbänken. Im letzten großen Prozess hat Bucharin Hegels Wort, die Weltgeschichte sei das Weltgericht, mit Nachdruck auf die Prozesse gelegt, die nur verstanden werden können, wenn man sie als Ausdruck eine bereits erreichten gesellschaftlichen Monoliths wertet: Die Angeklagten gestanden. Die Psychologie der Prozesse ist viel zu subtil, als dass man dem plumpen Vorwurf erpresster Geständnisse durch Folter den Hauch eines Existenzrechtes einräumen könnte. Die Prozesse fanden statt unter dem Banner des Marxismus-Leninismus und im Bann der Kollektive. Das Ich, an dem der bornierte Bourgeoisverstand verharrt,  war in der Sowjetunion bereits zum Wir geworden und der Chefankläger Wyschinski isolierte die Mitkämpfer Lenins vom Wir: Sein ‚Ich fordere, dass diese tollgewordenen Kettenhunde des Imperialismus allesamt erschossen werden‘ passierte beim obersten Militärgericht des Landes unter dem Vorsitz des Militärjuristen Ulrich.   Wenn die Handarbeiter im Lande bahnbrechende handwerkliche Rekorde aufstellen, können die Kopfarbeiter der kommunistischen Partei rasch zu Parteiaristokraten verkommen. Das Schuldeingeständnis ist der letzte Ausdruck proletarischer Disziplin und hoher moralischer Verantwortung dem Kollektiv gegenüber. Man kann die Prozesse nicht mehr mit dem Individualrecht angehen, was die Konterrevolution ununterbrochen getan hat und noch tut, nach dem auch die Differenz zwischen Arbeiter und Bauer bestehen bleibt, die es im Sozialismus zu überwinden gilt in Form eines kollektiven Zusammenlebens bisheriger bornierter Stadt- und Landtiere- eine Formulierung von Engels. Reue war vor einem Gott-Zaren nicht mehr möglich, sondern nur noch vor einem Arbeiter-Bauern-Kollektiv. Durch die Stachanow-Bewegung kam vehement zum Durchbruch, dass der Sozialismus erste Konturen des Kommunismus annimmt. Wir haben es mit einer Phase der Weltgeschichte zu tun, mit einer Vehemenz kollektiver Anstrengung, nachdem der Hauer Stachanow eine Welle losgetreten hatte, die man mit den gewaltig-mitreißenden Ausbrüchen in Beethovens ‚Eroica‘ assoziieren kann. Wirklich freie Arbeit war für Marx verdammter Ernst, Komponieren intensivste Anstrengung. Endlich schien überwunden zu sein, woran es in der Sowjetunion lange haperte: Die vom jungen Engels gesehene Möglichkeit, nach Überwindung des Kapitalismus, die Produktion ins Unendliche vermehren zu können.

5. Die Stachanow-Bewegung und die neue Verfassung bildeten ein positives Milieu, in dem Minderwertigkeitskomplexe der sowjetischen Völker geheilt werden konnten. Jetzt, erst jetzt! konnte man stolz von einer klassischen Revolution im Oktober 1917 sprechen, denn die Rekordarbeitsproduktivität der Nachahmer Stachanows ließ die furchtbaren wirtschaftlichen Defizite vergessen, wie die neue Verfassung die demokratischen Defizite vergessen ließ, in die die Oktoberrevolution hineingeboren wurde. Ich brauche hier wohl nur kurz auf die berühmte Passage aus Stalins Rede ‚Über die Aufgaben der Wirtschaftler‘ vom vierten Februar 1931 hinweisen: „Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zustande, oder wir werden zermalmt“. Das Blatt hatte sich bereits gewendet, denn in der kapitalistischen Welt des Westens grassierte seit 1929 eine  schreckliche Wirtschaftskrise,  die in der ganzen Gesellschaft depressive Züge hinterließ, während in der Sowjetunion die Last des Rückständigkeitstrauma von Tag zu Tag abnahm, die Sowjetunion Stalins kannte keine Arbeitslosigkeit und der ständig steigende  Lebensstandard war ein Indiz, dass die Sonne nicht mehr untergehen würde. 

Die Reinigung unter den Oktoberjakobinern war notwendig, um die Revolution in ihrer Reinheit zu bekommen. Es erhellt, dass Revolutionen durch ihren spezifischen Rückgang auf das Ursprüngliche zugleich ein radikales Reinigungsbedürfnis aus ihrem Inneren entwickeln. Ohne die Schrift Rousseaus über den Ursprung der Ungleichheit hätte die bürgerliche Revolution in Frankreich nicht ihre Klassizität erreicht, mit der sie bis heute weltgeschichtlich renommieren kann. In seiner Autobiografie unterzieht Rousseau sodann sein Ich einer Reinigung, wie sie bisher beispiellos in der Kulturgeschichte war. Lenin schrieb sein Fundamentalwerk ‚Staat und Revolution‘ perspektivisch auf das kommende weltgeschichtliche Großereignis, das für Kenner in der Luft lag, um opportunistische Entstellungen an der marxistischen Lehre vom Staat aufzudecken, kurz um den reinen und unverfälschten Marxismus freizulegen. Dass er in diesem Zusammenhang auf die Sozialdemokraten zu sprechen kam, die für ihn schmutzige Wäsche trugen, ist ein erster, noch leiser Hinweis, auf die Notwendigkeit eines Reinigungsgeschäftes der Revolution. 

Der Ausdruck ‚Väterchen Stalin‘ drückt nach deutscher Mentalität, im deutschen Milieu und in der deutschen Sprache, die nur den Ausdruck ‚Väterchen Frost‘ kennt, etwas zu harmlos aus, was bisher in der Weltgeschichte einmalig war, auch spricht kein Türke vom Väterchen Atatürk, kein Vietnamese vom Väterchen Ho, in diesen Ländern ist die Verniedlichungsform ganz unüblich. Einmalig war ein Monolith mit einer eisernen Führung, für die die Oppositionskriege der Fraktionen der Vergangenheit angehörten. Es war die Ruhe vor dem Sturm aus dem Westen. Die Achse zwischen der neuen Verfassung und der Stachanowbewegung war innenpolitisch so stabil, dass sie zwei schwere Brocken tragen konnte: In der Wirtschaftsplanung war der Würfel auf die Schwerindustrie und damit wohlweislich auch auf die unpopuläre Rüstungsindustrie zu Lasten der Konsumgüterindustrie gefallen und politisch behauptete sich das Regime des Väterchen durch Reinigungen unter den Eliten des Landes, die verzweifelt und vergebens versuchten, eine Massenbewegung für ihre restaurativen Zwecke loszutreten. Als dies misslang, konnten nur noch die Mittel des individuellen Terrors und der Attentate angewandt werden, zu denen ja schon die Volksfreunde am Ende des 19. Jahrhunderts gegriffen hatten, nachdem die Masse der Bauern sie abgewiesen hatte.  Das Wichtigste war wohl der merklich steigende Lebensstandard und die merklich steigende Lebenserwartung. Als Stalin Generalsekretär wurde, betrug diese 38 Jahre, als ‚Väterchen Stalin‘ starb, 60 Jahre !!

6. Ein kleinbürgerlicher Theoretiker hatte bereits in seiner Kritik am Feudalismus entwickelt, dass die Kennzeichen einer guten Regierung die steigende Lebenserwartung des Volkes sei. Als Rousseau 1762 sein staatspolitisches Hauptwerk ‚Der Gesellschaftsvertrag‘ mit dem Kapitel ‚Kennzeichen einer guten Regierung‘ veröffentlichte, das sofort auf den Treppen des Justizministeriums verbrannt wurde und er Frankreich fliehen musste, betrug die Lebenserwartung in Paris gerade 29 Jahre. Als die Horden Hitlers ohne Kriegserklärung aus dem Westen massakrierend aufmarschierten, wusste die Mehrheit der Sowjetbevölkerung, dass sie was zu verteidigen hatte. Auch hier zeigt sich, dass Siege und Niederlagen im Krieg ökonomische Ursachen haben. Militärtechnisch war die überhebliche Wehrmacht überlegen, aber der Krieg wurde durch Motive gewonnen, die sich ausgeklügelter faschistischer Militärstrategie entzogen, durch das Arbeiter-Bauern-Kollektiv und durch die Verwurzelung des leninistischen Rätesystems im Volk. 

  1. Joseph E. Davies, Als USA-Botschafter in Moskau, Authentische und vertrauliche Berichte über die Sowjetunion bis Oktober 1941, Steinberg Verlag, Zürich, 1943,208 
  2. 2..George Frost Kennan, Reflections: Flashbacks, in: The New Yorker, 25. Februar 1958,57f. ‚Containement-Policy‘ wurde in den USA die Eindämmungspolitik gegen die Ausbreitung des Sozialismus genannt, die ab 1947 primär gegen die Sowjetunion gerichtet war und das Ende der Anti-Hitler-Koalition bedeutete.
  3. In bürgerlichen Diktaturen werden Verfassungen von einer Minderheit ausgehandelt und das Volk wird vor vollendete Tatsachen gestellt. So war es im Mai 1949 mit dem Bonner Grundgesetz der Fall, das ein obskurer ‚Parlamentarischer Rat‘, der aus nur 65 Staatsbürgern bestand, initiiert hatte. Er setzte sich aus 61 Männern und nur vier Frauen zusammen. Noch heute kann sich das deutsche Volk unter einem parlamentarischen Rat nichts vorstellen, herausgekommen ist aus diesem Zwitter jedenfalls keine Räteverfassung. ‚Parlamentarisch Rat‘ ist ein Zwitter, Parlament und Räte beißen sich aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht. Es kann behauptet werden, die Bundesrepublik ist durch einen Zwitter gezeugt worden, eine potente Republik ist sie bis heute nicht gewesen und kann auch keine mehr werden.
  4. Vergleiche Friedrich Engels, Grundsätze des Kommunismus, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960,369 
  5. Siehe Albert Szymanski, Human Rights in the Soviet Union, London, Zed Books, 1984. 

 

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Über Heinz Ahlreip 115 Artikel
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.

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