In einer Artikelserie für die Arbeiterzeitung hatte sich Lenin 1899 mit einigen grundlegenden Fragen zur propagandistischen und organisatorischen Arbeit der Partei befasst. Längst hatte sich in der Bevölkerung Russlands eine große Unzufriedenheit breitgemacht, die Widersprüche zwischen der Arbeiterklasse und der machthabenden Bourgeoisie spitzten sich immer mehr zu.
Dass aber in jener vorrevolutionären Zeit eine Partei mit einem klaren Programm vonnöten war, daran bestand schon lange kein Zweifel mehr. Plechanow und einige Gleichgesinnte hatten 1883 die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ gegründet. 1895, also erst zwölf Jahre später, begründete der damals knapp 25jährige Lenin mit einigen seiner engsten Mitstreiter in Petersburg einen Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse. Damit wurde in Russland der Grundstein gelegt für eine marxistische Kampfpartei, zugleich erhielt die revolutionäre Arbeiterbewegung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus ein klares Programm für die Zukunft. Das Interessante daran ist, dass heute dieselben Fragen erneut zu Diskussion stehen…
W. Uljanow (Lenin)
EINE DRINGENDE FRAGE
Das regelmäßig erscheinende Parteiorgan
Wir haben im vorigen Artikel gesagt, dass die Gründung eines regelmäßig erscheinenden und zuzustellenden Parteiorgans für uns eine dringende Aufgabe ist, und haben die Frage aufgeworfen, ob und unter welchen Bedingungen es möglich ist, dieses Ziel zu erreichen. Betrachten wir die wichtigsten Seiten dieser Frage. Vor allem könnte man uns entgegnen, zur Erreichung dieses Ziels sei es notwendig, zuerst die Tätigkeit der lokalen Gruppen weiterzuentwickeln. Wir halten diese ziemlich verbreitete Meinung für irrig.
Welche Bedingungen müssen gegeben sein?
Die Gründung und feste organisatorische Gestaltung eines Parteiorgans — und folglich auch der Partei selbst — können und müssen wir unverzüglich in Angriff nehmen. Die für einen solchen Schritt notwendigen Bedingungen sind gegeben:
- lokale Arbeit wird geleistet, und sie hat offenbar bereits tiefe Wurzeln geschlagen, denn die immer häufiger werdende Zerschlagung einzelner Organisationen führt nur zu kleinen Unterbrechungen;
- an die Stelle der im Kampf Gefallenen treten rasch frische Kräfte.
- Publikationsmittel und literarische Kräfte besitzt die Partei nicht nur im Ausland, sondern auch in Russland.
Die Frage besteht also darin, ob die Arbeit, die bereits geleistet wird, auf „handwerkerische“ Weise fortgesetzt werden oder ob sie organisatorisch zur Arbeit einer Partei zusammengefasst und so gestaltet werden soll, dass sie sich ganz in einem gemeinsamen Organ widerspiegelt.
Was sind die dringendsten Fragen?
Hier kommen wir zur dringendsten Frage unserer Bewegung, zu ihrem wunden Punkt — der Organisation.
a) Eine Verbesserung der revolutionären Organisation und Disziplin,
b) eine Vervollkommnung der konspirativen Technik sind dringend notwendig. Es muß offen zugegeben werden, dass wir in dieser Beziehung hinter den alten russischen revolutionären Parteien zurückgeblieben sind und alle Kräfte aufbieten müssen, um sie einzuholen und zu überholen.
c) Ohne Verbesserung der Organisation ist jeder Fortschritt unserer Arbeiterbewegung überhaupt, ist insbesondere auch die Bildung einer aktiven Partei mit einem richtig funktionierenden Organ unmöglich. Dies einerseits. Anderseits aber müssen die jetzigen Organe der Partei (Organe sowohl im Sinne von Institutionen und Gruppen als auch im Sinne von Zeitungen) den Fragen der Organisation mehr Aufmerksamkeit widmen und die lokalen Gruppen in dieser Richtung beeinflussen.
d) Die lokale, handwerkerische Arbeit führt stets zu einer übermäßigen Fülle persönlicher Verbindungen, zum Zirkelwesen, wir aber sind bereits aus dem Zirkelwesen herausgewachsen, das für die jetzige Arbeit zu eng wird und zu einer übermäßigen Verausgabung von Kräften führt. Nur die Verschmelzung zu einer Partei wird es ermöglichen, die Prinzipien der Arbeitsteilung und der Kräfteersparnis systematisch durchzuführen — dies aber müssen wir erreichen, um
e) die Zahl der Opfer zu vermindern und ein mehr oder minder festes Bollwerk gegen das Joch der autokratischen Regierung und ihre wütenden Verfolgungen zu schaffen. Gegen uns, gegen die kleinen Gruppen von Sozialisten, die sich im weiten russischen „Untergrund“ befinden, ist der gigantische Mechanismus eines der mächtigsten Staaten der Gegenwart aufgeboten, der alle Kräfte anspannt, um den Sozialismus und die Demokratie zu erdrosseln.
f) Wir sind überzeugt, dass wir diesen Polizeistaat zu guter Letzt zerbrechen werden, weil für die Demokratie und den Sozialismus alle gesunden und sich entwickelnden Schichten des ganzen Volkes einstehen; um aber einen systematischen Kampf gegen die Regierung führen zu können, müssen wir die revolutionäre Organisation, Disziplin und Konspirationstechnik auf die höchste Stufe der Vollkommenheit bringen.
g) Es ist notwendig, dass sich die einzelnen Parteimitglieder bzw. die einzelnen Mitgliedergruppen auf einzelne Seiten der Parteiarbeit spezialisieren, die einen auf den Nachdruck von Literatur, die andern auf ihre Heranschaffung aus dem Ausland, die dritten auf ihren Transport innerhalb Russlands, die vierten auf ihre Verbreitung in den Städten, die fünften auf Einrichtung konspirativer Wohnungen, die sechsten auf Sammlung von Geld, die siebenten auf Organisierung der Zustellung von Korrespondenzen und aller Mitteilungen über die Bewegung, die achten auf Aufrechterhaltung der Verbindungen usw. und dgl. mehr. Eine solche Spezialisierung erfordert, wir wissen das, bedeutend größere Standhaftigkeit, bedeutend mehr Fähigkeit, sich auf bescheidene, unscheinbare Kleinarbeit zu konzentrieren, bedeutend mehr wahren Heroismus als die gewöhnliche Zirkelarbeit. Aber die russischen Sozialisten und die russische Arbeiterklasse haben bereits ihre Fähigkeit zu heroischem Handeln gezeigt, und eigentlich wäre es eine Sünde, wollten wir uns über Mangel an Menschen beklagen.
Woher kommen unsere Mitstreiter?
Unter der Arbeiterjugend ist ein leidenschaftliches, unaufhaltsames Hinstreben zu den Ideen der Demokratie und des Sozialismus zu beobachten, und aus den Reihen der Intelligenz strömen den Arbeitern nach wie vor Helfer zu, obgleich die Gefängnisse und Verbannungsorte überfüllt sind. Wenn unter allen diesen Rekruten der revolutionären Sache der Gedanke breit propagiert wird, dass eine straffere Organisation notwendig ist, so wird der Plan, eine regelmäßig erscheinende und zuzustellende Parteizeitung zu begründen, aufhören, ein Traum zu sein.
Regelmäßiger Informationsaustausch
Nehmen wir eine Bedingung für den Erfolg eines solchen Plans: die Belieferung der Zeitung mit regelmäßig eingehenden Korrespondenzen und Materialien aus allen Orten. Zeigt denn nicht die Geschichte, dass sich ein solches Ziel in allen Zeiten der Belebung unserer revolutionären Bewegung selbst für im Ausland erscheinende Organe als durchaus erreichbar erwiesen hat? Wenn die in den verschiedenen Gebieten tätigen Sozialdemokraten die Parteizeitung als ihre Zeitung betrachten und die Unterhaltung einer ständigen Verbindung mit ihr, die Erörterung ihrer Fragen, die Widerspiegelung ihrer ganzen Bewegung in dieser Zeitung als ihre Hauptaufgabe betrachten, dann wird die Versorgung der Zeitung mit lückenlosen Informationen über die Bewegung durchaus zu verwirklichen sein, falls die keineswegs besonders komplizierten konspirativen Methoden befolgt werden.
Wie soll die Verbreitung der Zeitung erfolgen?
Die andere Seite der Sache — die regelmäßige Zustellung der Zeitung in alle Gegenden Russlands — ist viel schwieriger, schwieriger als die entsprechende Aufgabe bei den früheren Formen der revolutionären Bewegung in Russland war, als die Zeitungen nicht in solchem Maße für die Volksmassen bestimmt waren. Aber die Bestimmung der sozialdemokratischen Zeitungen erleichtert ihre Verbreitung. Die Hauptgegenden, in die die Zeitung regelmäßig und in einer großen Zahl von Exemplaren zugestellt werden muss, das sind die Industriezentren, die Fabrikdörfer und Fabrik Städte, die Fabrikviertel der großen Städte usw. In diesen Zentren besteht fast die ganze Bevölkerung aus Arbeitern und ihren Angehörigen; der Arbeiter ist hier faktisch Herr der Lage und kennt Hunderte von Methoden, die Wachsamkeit der Polizei zu täuschen; der Verkehr mit benachbarten Fabrikzentren ist außerordentlich rege.
Die legendäre „rote Post“
In der Epoche des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialisten (von 1878 bis 1890) arbeitete die deutsche politische Polizei nicht schlechter, ja wahrscheinlich sogar besser als die russische, und dennoch vermochten es die deutschen Arbeiter dank ihrer Organisiertheit und Diszipliniertheit zu erreichen, dass die wöchentlich erscheinende illegale Zeitung regelmäßig aus dem Ausland hereingebracht und allen Abonnenten ins Haus geliefert wurde, so daß sogar Minister nicht umhinkonnten, die sozialdemokratische Post (die „rote Post“) zu bewundern.
Monatliches Erscheinen der Zeitung
Von einem solchen Erfolg können wir natürlich nicht träumen, aber wir können, wenn wir alle unsere Anstrengungen darauf riditen, durchaus erreichen, dass die Zeitung unserer Partei mindestens zwölfmal jährlich erscheint und regelmäßig allen für den Sozialismus zugänglichen Arbeiterkreisen in allen Hauptzentren der Bewegung zugestellt wird. Um zur Frage der Spezialisierung zurückzukehren, müssen wir ferner darauf hinweisen, dass ihr Mangel sich teilweise durch das Vorherrschen der „handwerkerischen“ Arbeit erklärt, teilweise auch dadurch, dass unsere sozialdemokratischen Zeitungen den Fragen der Organisation gewöhnlich zuwenig Raum widmen.
Festigung des revolutionären Bewusstseins
Nur die Schaffung eines gemeinsamen Parteiorgans kann jeden „Teilarbeiter“ der revolutionären Sache mit dem Bewusstsein erfüllen, dass er „in Reih und Glied“ marschiert, dass seine Arbeit für die Partei unmittelbar notwendig ist, daß er ein Glied jener Kette bildet, die den schlimmsten Feind des russischen Proletariats und des ganzen russischen Volkes — die russische autokratische Regierung — erdrosseln wird.
Eine gewisse Legalisierung ermöglichen
Nur die strenge Durchführung einer derartigen Spezialisierung wird es ermöglichen, Kräfte zu sparen: nicht nur wird jede einzelne Seite der revolutionären Arbeit von einer geringeren Zahl Personen besorgt werden, sondern es wird sich auch die Möglichkeit ergeben, eine Reihe von Zweigen der heutigen Tätigkeit zu legalen (= vom Gesetz erlaubten) Angelegenheiten zu machen. Eine solche Legalisierung ihrer Tätigkeit, ihre Einpassung in den Rahmen der Gesetzlichkeit, hat der „Vorwärts“ [78] — das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie — den russischen Sozialisten schon lange empfohlen.
Auf den ersten Blick wirkt ein derartiger Rat verblüffend, in Wirklichkeit aber verdient er ernste Aufmerksamkeit. Fast jeder, der in einem lokalen Zirkel irgendeiner Stadt gearbeitet hat, wird sich leicht erinnern, dass es unter den zahlreichen und sehr verschiedenartigen Angelegenheiten, mit denen er sich befasste, manche gab, die an und für sich legal sind (z. B. die Sammlung von Angaben über die Lage der Arbeiter, das Studium vieler Fragen an Hand von legaler Literatur, das Studium einer bestimmten Art ausländischer Literatur und Referate darüber, Verbindungen bestimmter Art, Unterstützung der Arbeiter in Sachen der allgemeinen Bildung, beim Studium der Fabrikgesetze und vieles andere).
Die innere Verbundenheit festigen!
Die Verwandlung derartiger Arbeiten in besondere Funktionen einer besonderen Kategorie von Personen würde die zahlenmäßige Stärke der aktiven, „im Feuer“ stehenden revolutionären Armee vermindern (ohne jede Verminderung ihrer „Kampffähigkeit“) und die zahlenmäßige Stärke der Reserve, die an die Stelle der „Gefallenen und Verwundeten“ tritt, erhöhen. Das ist nur möglich, wenn sowohl die aktiven Mitglieder als auch die Reserve ihre Tätigkeit in einem gemeinsamen Organ der Partei widergespiegelt sehen und fühlen, dass sie mit ihr verbunden sind.
Legale Zusammenkünfte organisieren!
Natürlich werden lokale Versammlungen von Arbeitern und lokalen Gruppen, wie weit wir die Spezialisierung auch durchführen mögen, stets notwendig sein, aber einerseits wird sich die Zahl der revolutionären Versammlungen mit vielen Teilnehmern (die in polizeilicher Beziehung besonders gefährlich sind und deren Nutzen häufig bei weitem nicht den mit ihnen verbundenen Gefahren entspricht) bedeutend vermindern, und anderseits wird die Verwandlung verschiedener Seiten der revolutionären Arbeit in spezielle Funktionen bessere Möglichkeiten bieten, solche Versammlungen durch legale Versammlungsformen zu tarnen:
Zusammenkünfte zu Vergnügungszwecken, Versammlungen gesetzlich zugelassener Vereine usw. Haben es doch die französischen Arbeiter unter Napoleon III. und die deutschen Arbeiter unter dem Sozialistengesetz verstanden, alle möglichen Tarnungen für ihre politischen und sozialistischen Versammlungen ausfindig zu machen. Und auch die russischen Arbeiter werden das fertigbringen.
Demokratischer Zentralismus
Ferner wird nur die Verbesserung der Organisation und die Schaffung eines gemeinsamen Parteiorgans es ermöglichen, den eigentlichen Inhalt der sozialdemokratischen Propaganda und Agitation zu erweitern und zu vertiefen. Das aber brauchen wir sehr. Die lokale Arbeit führt fast unvermeidlich zur Aufbauschung der lokalen Besonderheiten, zu . . . . . . das ist unmöglich ohne ein Zentralorgan, das gleichzeitig auch ein führendes demokratisches Organ wäre. Nur dann wird unser Bestreben, die Sozialdemokratie zum führenden Kämpfer für die Demokratie zu machen, Wirklichkeit werden. Nur dann werden wir auch eine bestimmte politische Taktik ausarbeiten können.
Einige Besonderheiten und Prinzipien
Die Sozialdemokratie hat die falsche Lehre von der „einheitlichen reaktionären Masse“ verworfen. Sie sieht eine der wichtigsten Aufgaben der Politik darin, sich der Unterstützung der fortschrittlichen Klassen gegen die reaktionären Klassen zu bedienen. Bei lokalem Charakter der Organisationen und Organe wird für die Erfüllung dieser Aufgabe fast nichts getan: über einen Verkehr mit einzelnen Personen aus den Kreisen der „Liberalen“ und ihre Ausnutzung für verschiedene „Gefälligkeiten“ geht die Sache nicht hinaus.
Bündnispolitik mit demokratischen Kräften
Nur ein gemeinsames Parteiorgan, das die Prinzipien des politischen Kampfes konsequent durchführt und das Banner des Demokratismus hochhält, wird imstande sein, alle kampfgewillten demokratischen Elemente auf seine Seite zu ziehen und alle fortschrittlichen Kräfte Russands im Kampf für politische Freiheit auszunutzen. Erst dann wird es gelingen, den dumpfen Hass der Arbeiter gegen die Polizei und die Behörden in bewussten Hass gegen die autokratische Regierung und in die Entschlossenheit zu verwandeln, den Kampf für die Rechte der Arbeiterklasse und des ganzen russischen Volkes mit Einsatz aller Kräfte zu führen! Die auf solchem Grund errichtete und straff organisierte revolutionäre Partei aber wird im heutigen Russland eine gewaltige politische Macht sein!
Der Entwurf eines Programms
In den nächsten Nummern werden wir den Entwurf eines Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands veröffentlichen und mit der eingehenderen Erörterung einzelner Fragen der Organisation beginnen
Quelle: W.I. Lenin, Werke, Dietz Verlag Berlin, 1955; Bd. 4, S. 187. (Zwischenüberschriften eingefügt!)
Der Beitrag wurde übernommen von Sascha’s Welt, erschienen am 30. Mai 2023
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Bitte lest auch die neunteilige Serie
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