Tatsächlich war und ist die Bekämpfung der Konterrevolution die zentrale Klassenfrage, die Machtfrage der proletarischen Revolution, die Frage von Sein oder Nichtsein einer sozialistischen Gesellschaft. In einem interessanten Artikel widerlegt Andrea Schön hier die Lügen über die angeblichen Stalinschen Massenmorde.
Gastbeitrag von Andrea Schön – 09. April 2022 |
Die Lügen über Stalin
Der Anti-„Stalinismus“, das trojanische Pferd in der kommunistischen Bewegung, steht und fällt mit dem Begriff des Stalinismus, d.h. einer aus der Personalisierung erwachsenen begrifflichen Verallgemeinerung „unsozialistischer“ Phänomene – vulgo: In der Stalinzeit wurde heftig von „sozialistischen Prinzipien“ abgewichen, und daran ist vor allem Stalin schuld. Verstanden wird dabei im abstrakt-revisionistischen Sprachgebrauch ein mehr oder minder kohärenter „Politiktyp“ einer auf sozialistischer Ökonomie basierenden Gesellschaft, der auf Elementen wie „Überzentralisierung“ in den Strukturen von Partei und Gesellschaft, administrativ-bürokratischen Methoden anstelle von kollektiven Entscheidungsprozessen bis hin zu „Kommandostrukturen“ insbesondere in der Wirtschaft etc. beruht, zur Entfremdung des einzelnen vom kollektiven Eigentum, zu gesellschaftspolitischer Passivität und schließlich zur Abstumpfung der Massen zu unkritischen Befehlsempfängern führt. Damit einher geht die Kritik, daß jener „Politiktyp“ sich außerstande erwiesen habe, die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution (Gewaltenteilung, bürgerliche Freiheitsrechte, Pluralismus etc.) positiv aufzuheben, d.h. ihre progressiven Aspekte in die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft einzubeziehen.
Noch weiter zugespitzt, wird in geschichtsphilosophischer Manier in Anlehnung an den Verlauf der französischen Revolution ein „Thermidor“ in der Sowjetunion ausgemacht, d.h. die angebliche Vernichtung der Avantgarde der Revolution zugunsten der Herrschaft einer privilegierten bürokratischen Kaste. Obwohl diese Ansätze sich marxistischer Begrifflichkeiten befleißigen, zeigt sich beim näheren Hinsehen, wie wenig die Dialektik zwischen Ökonomie und Politik im Sozialismus und damit einhergehend der Zusammenhang zwischen nationalem und internationalem Klassenkampf unter den konkret-historischen Bedingungen beachtet wird. Die Thematik ist allerdings zu komplex, um sie in einem kleinen Artikel auch nur ansatzweise sinnvoll zu behandeln. Es sind dazu auch schon viele wertvolle Analysen in der offensiv und in der Zeitschrift Rotfuchs erschienen und werden sicherlich auch noch in Zukunft erscheinen.
Die wichtigsten Forschungsergebnisse nach Öffnung der Kreml-Archive
Ich möchte mich in diesem Artikel auf jene Zahlen und Fakten konzentrieren, die als „Hintergrundstrahlung“ der vorgenannten „Stalinismus“-Debatte immer mitschwingen – ob man sich auf sie explizit bezieht oder nicht: Es handelt sich um die „Opfer des Stalinismus“, deren vermutete Zahl den zumeist völlig unreflektierten Ausgangspunkt einer solchen Debatte bildet; unreflektiert deshalb, weil es an erster Stelle die Frage des Gegners ist, an der man (Kommunist) sich abarbeitet, dabei unmerklich bis unweigerlich in eine völlig metaphysische, d.h. ahistorisch moralisierende Diskussion gerät – und in jene Defensive, in die eigentlich der Gegner gehört, der es bis heute nicht verwinden kann, daß die Sowjetunion unter Stalin dem imperialistischen Lager seine bisher größten und schmachvollsten Niederlagen beigebracht hat.
Man stelle sich z.B. vor, Stalin hätte mit seinem Team in nur einem Jahrzehnt die Sowjetunion aus dem Mittelalter in die Neuzeit navigiert, anschließend die Hitlerarmee zerschmettert und im Anschluß daran das Land binnen fünf Jahren wieder auf Vorkriegsniveau gebracht – und das Ganze ohne eine „Unzahl“ von Opfern, die natürlich ein riesiges Ausmaß annehmen muß, damit auch der skrupelloseste Genosse, moralisch bis ins Mark erschüttert, niemals mehr aus der Frage entlassen wird: „War das die Sache wert??“
Nach Vernachlässigung des ideologischen Phrasengeflechts um den Stalinismus-Begriff bleibt als Kern: die Anzahl der Opfer. Im folgenden möchte ich mich mit dem hierzu vorliegenden Datenmaterial beschäftigen, wie es insbesondere von Mario Sousa, Parteimitglied der schwedischen KPML(r), in seinem Artikel „Lies concerning the history of the Soviet Union“ (Lügen in Bezug auf die Geschichte der Sowjetunion) zusammengetragen wurde. Nach Öffnung der Archive des Zentralkomitees der KPdSU erschienen im Jahre 1990 einige wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema, die in der Weltöffentlichkeit kaum Beachtung fanden – anders als etwa das berüchtigte „Schwarzbuch des Kommunismus“ (Stephane Courtois et al., Frankreich 1997), das die „Stalin-Opfer“ auf bis zu 20 Millionen hochrechnet (pikanterweise entspricht diese Zahl den russischen Kriegsopfern im Zweiten Weltkrieg) oder ähnlich illustre Literatur, die nach dem „Wer bietet mehr?“-Paradigma operiert.
Nazis lancieren Opfer-Legende
Bevor die aufgedeckten statistischen Daten genauer betrachtet werden, sei zunächst ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte der Opferlegende geworfen. Wie bereits 1925 in Hitlers „Mein Kampf“ angekündigt, galt die Ukraine als die „Kornkammer“ für das „Volk ohne Raum“ und damit als eines der wichtigsten Kriegsziele des deutschen Faschismus im Osten. Um den kriegerischen Feldzug propagandistisch vorzubereiten, startete Goebbels eine Hetzkampagne gegen die Bolschewiken der Ukraine, die angeblich ihr Volk einer bewußt von Stalin provozierten Hungerkatastrophe auslieferten. Die Kampagne erwies sich allerdings als allzu durchsichtig im Hinblick auf die dahinter stehenden faschistischen Kriegsziele.
Das Material lieferte die Gestapo
Unterstützung nahte jedoch von William Hearst, dem Gründer der Regenbogenpresse in den USA, dem in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts 25 Tageszeitungen, 24 Wochenzeitungen, 12 Radiostationen, eine der ersten Fernsehstationen und 2 Nachrichtenagenturen gehörten. Die Gesamtauflage der Zeitungen betrug 13 Millionen Exemplare pro Tag und wurde von einem Drittel der erwachsenen Bevölkerung in den USA gelesen. 1934 wurde der ultra-konservative Nationalist und Antikommunist Hearst von Hitler als Gast und Freund empfangen. Nach diesem Besuch waren Hearsts Zeitungen plötzlich voll von Horrorstories über die Sowjetunion – von angeblichem Völkermord über Fälle von Sklaverei, einer im Luxus schwelgenden Führung etc. Das Material lieferte die Gestapo. Zu den ersten Kampagnen gehörte die besagte über die ukrainische Hungersnot: „6 Millionen Menschen sterben Hungers in der Sowjetunion“, titelte die Chicago American am 18.2.1935 und lancierte Berichte, wonach diese von den Bolschewiki absichtlich herbeigeführt worden sei. (Nebenbei: Der dafür bezahlte Lohnschreiber nannte sich Thomas Walker, ein angeblich weitgereister Journalist, der jahrelang die Sowjetunion durchquert hatte. Wir kommen auf ihn noch zurück.)
Heftige Klassenkämpfe in der Sowjetunion
Tatsächlich wissen wir, daß der Beginn der dreißiger Jahre von heftigen Klassenauseinandersetzungen auf dem Lande geprägt war: Arme, landlose Bauern revoltierten gegen die Kulaken, reiche Landbesitzer, um die Bildung von Kolchosen (Genossenschaften) durchzusetzen. Ein großer Teil der Kulaken wiederum versuchte seinerseits die Einbringung seines riesigen Privateigentums an Boden und Landwerkzeugen in die Kolchosenwirtschaft zu verhindern – indem er sein Vieh abschlachtete, durch Sabotageaktionen oder durch gezielte Unterwanderung der Kolchosen. Insgesamt waren 120 Millionen Bauern in diese heftigen Klassenkämpfe verwickelt. Die Partei hatte dabei die extrem schwierige Aufgabe, die Massenbewegung zur Enteignung der Kulaken in geordnete Bahnen zu lenken und zugleich die Landfrage als Klassenfrage grundsätzlich zu lösen (d.h. die Enteignung der Kulaken durchzusetzen). Insbesondere die Zusammenstöße mit rechten Nationalisten in der Ukraine führten zu heftigen Nahrungsmittelengpässen. Aber es war gerade diese reaktionäre Clique, die die Nazis während der Besatzung in ihrem Völkermord an den Juden unterstützte und nach dem Zweiten Weltkrieg im US-amerikanischen Exil zynischerweise die Mähr vom „ukrainischen Holocaust“ in die Welt setzte, der auch noch der Opferzahl der Juden entsprach: 6 Millionen (vgl. dazu Martens, S. 129 ff).
Opfer-Legende zum Zweiten
Die Lügen der Nazis überstanden den Zweiten Weltkrieg, indem sie vom amerikanischen und vom britischen Geheimdienst (CIA und MI5) kultiviert wurden und immer einen bevorzugten Platz in der Propaganda gegen die Sowjetunion einnahmen. Auch McCarthys Hexenjagd in den fünfziger Jahren basierte auf den Märchen der Millionen Hungertote in der Ukraine. 1953 erschien in den USA ein Buch mit dem Titel „Black Deeds of the Kremlin“ (Die schwarzen Taten des Kreml), finanziert von in die USA geflüchteten ukrainischen Nazi-Kollaborateuren. Während der US-Präsidentschaft von Ronald Reagan in den Achtzigern wurde dieselbe Propaganda-Platte erneut aufgelegt, und 1984 erhielt diese durch das Buch eines Harvard-Professors mit dem Titel „Human Life in Russia“ (Leben in Rußland) wissenschaftliche Weihen. Im Jahre 1986 erschien ein weiteres Buch zum Thema, diesmal von einem ehemaligen Mitglied des britischen Geheimdienstes, Robert Conquest, seines Zeichens Professor an der Stamford University in Kalifornien, mit dem Titel „Harvest of Sorrow“ (in deutscher Übersetzung: Ernte des Todes). Für dieses Werk erhielt Robert Conquest 80.000 US-Dollar von der faschistischen Ukraine National Organisation, die 1942 in der Ukraine eine Partisanenarmee zur Unterstützung der Nazis aufbaute und deren Mitglieder zum größten Teil als Polizisten, Hinrichtungskommandos, Partisanenjäger und örtliche Verwaltungsbeamte für die Gestapo oder die SS gearbeitet hatten (vgl. Martens, S. 127). Diese Organisation finanzierte im übrigen auch 1986 einen Film mit dem Namen „Harvest of Despair“ (wörtlich: Ernte der Verzweiflung), der u.a. auf Conquests Material basiert. Zu jenem Zeitpunkt hatten die angeblichen Hungertoten der Ukraine bereits eine stattliche Zahl von 15 Millionen erreicht.
Ein Lichtblick in dem immer wieder neu aufgelegten Lügengespinst ist die Veröffentlichung von Douglas Tottle, einem kanadischen Journalisten, dessen Buch mit dem Titel „Fraud, Famine and Fascism, The Ukrainian Genocide Myth from Hitler to Harvard“ (Fälschung, Hunger und Faschismus, Der Mythos vom ukrainischen Völkermord von Hitler bis Harvard) 1987 in Toronto erschien und materialreich die hartnäckig konservierte Lügenpropaganda widerlegte. Unter anderem konnte er nachweisen, daß diverse Autoren, darunter Conquest, Fotos von hungernden Kindern verwendet haben, die nachweislich aus dem Jahre 1922 stammen – Folgen des Interventionskrieges gegen die Sowjetunion! Des weiteren weist Tottle nach, daß Thomas Walker, jener Journalist, der für die Horrorberichte der Ukraine verantwortlich zeichnete, in Wirklichkeit auf den Namen Robert Green hörte, ein entlaufener Strafgefangener aus dem Staatsgefängnis von Colorado war und vor Gericht zugab, niemals in der Ukraine gewesen zu sein. Und ausgerechnet die Berichte des eigentlichen Moskau-Korrespondenten der Hearst-Presse, Lindsay Parrott, z.B. über die ausgezeichnete Ernte in der Sowjetunion im Jahre 1933 und die erzielten Fortschritte in der Ukraine, seien nie veröffentlicht worden. Parrott hielt sich 1934 in der Ukraine auf und konnte nach dem erfolgreichen Erntejahr keinerlei Anzeichen einer Hungersnot bemerken (Tottle; zit. n. Martens, S. 116).
Conquest und Solshenizyn – Opferlegende zum Dritten
Nach wie vor zu den berühmtesten Autoren über Millionentote in der Sowjetunion gehört Robert Conquest, der eigentliche Schöpfer aller Mythen und Lügen, die nach dem Zweiten Weltkrieg Verbreitung fanden. Seine bekanntesten Bücher sind „The Great Terror“ (Der große Terror) von 1969 und „Harvest of Sorrow“. Danach sind nicht nur Millionen Menschen in der Ukraine Hungers gestorben, sondern ebenso in den Arbeitslagern des Gulag und im Zuge der Moskauer Prozesse 1936-38. Die Quellen von Conquest sind exilierte Ukrainer in den USA, eine illustre Gesellschaft, die den rechtesten Parteien angehörte und die Nazis im Zweiten Weltkrieg unterstützte. Viele der Helden von Conquest sind bekannt als Kriegsverbrecher, die am Genozid an der jüdischen Bevölkerung in der Ukraine 1942 beteiligt waren, darunter der verurteilte Kriegsverbrecher Mykola Lebed, Sicherheitschef in Lwow während der Besatzung. Er wurde unter die Fittiche der CIA genommen, der er als „Informations“quelle zur Verfügung stand.
Conquests Vergangenheit als ehemaliger Agent in der Desinformationsabteilung (Information Research Department (IRD)) des britischen Geheimdienstes – zuständig für das gezielte Lancieren von „Informationen“ in der ausländischen Presse – wurde am 27.1.1978 in einem Artikel des Guardian enthüllt. Das IRD wiederum erhielt traurige Berühmtheit durch seine Verstrickung in den Rechtsextremismus, weshalb es seine Tätigkeit 1977 einstellen mußte. Bis dahin gelang es ihm, mehr als 100 der bekanntesten Journalisten Großbritanniens – von der Financial Times, The Times, dem Economist, dem Daily Mail und Daily Mirror, The Express, The Guardian etc. – mit Desinformationsmaterial zu versorgen. Robert Conquest arbeitete für den IRD bis 1956 mit der Aufgabe, zur sogenannten „schwarzen Geschichte“ der Sowjetunion beizutragen. Auch nachdem Conquest offiziell den Dienst verlassen hatte, schrieb er seine Bücher mit dessen Unterstützung. So bestand „The Great Terror“ im wesentlichen aus Material, das er in seiner Zeit beim Geheimdienst gesammelt hatte, und erschien mit Unterstützung des IRD. Conquests Hauptadressaten waren nützliche Idioten wie Universitätsprofessoren und Medienleute, die seinen Lügen ein breitestmögliches Publikum bescherten.
Ein weiterer berühmter „Gulag“-Autor ist der hinlänglich bekannte Alexander Solshenizyn, der wegen konterrevolutionärer Aktivitäten in Form von Verbreitung antisowjetischer Propaganda 1946 zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt worden war. Er vertrat die Ansicht, daß der Krieg gegen Nazideutschland durch einen Kompromiß mit Hitler zu verhindern gewesen wäre, und klagte die sowjetische Regierung und Stalin an, angesichts der schrecklichen Kriegsfolgen eine noch schlimmere Rolle als Hitler gespielt zu haben. Solshenizyn machte keinen Hehl aus seinen Nazisympathien. Mit Zustimmung und Hilfe Chruschtschows begann er 1962 mit der Veröffentlichung seiner Bücher, 1970 erhielt er für seinen „Archipel Gulag“ den Nobelpreis für Literatur, 1974 emigrierte er in die Schweiz und anschließend in die USA. Dort wurde er gerne als Vortragsreisender herumgereicht, u.a. zum AFL-CIO Gewerkschaftskongreß im Jahre 1975 geladen und am 15.7.1975 sogar vor den US-Senat zur Einschätzung der Weltlage. Er agitierte für eine erneute Intervention in Vietnam (nach der Niederlage der USA!) zur Befreiung der angeblich Tausenden von gefangenen und versklavten US-Soldaten sowie für einen amerikanischen Einmarsch in Portugal angesichts der sogenannten Nelken-Revolution 1974. Konsequenterweise betrauerte er die Befreiung der portugiesischen Kolonien in Afrika und propagierte die weitere Aufrüstung der USA gegen eine Sowjetunion, die angeblich über fünf- bis siebenmal so viele Panzer und Flugzeuge verfügte und über zwei- bis drei-, wenn nicht fünfmal so viele Atomwaffen. Besonders pikant: Im spanischen Fernsehen warnte er 1976 vor demokratischen Liberalisierungen u.a. mittels Verweis auf die 110 Millionen Opfer des russischen Sozialismus. Solshenizyns Sympathie für das ehemalige Zarenregime, die russisch-orthodoxe Kirche und seine pro-faschistischen Äußerungen ließen ihn als antisozialistischen Propagandisten schließlich in den Augen kapitalistischer Meinungsmacher erheblich an Wert verlieren (vgl. Sousa).
Die statistischen Methoden der Opferzähler
Conquest, Solshenizyn sowie der ebenfalls hinlänglich bekannte „Antistalinist“ Roy Medwedew verwendeten für ihre Opferzählungen statistisches Material aus der Sowjetunion, z.B. nationale Volkszählungen. Auf diese wurde ungeachtet der konkreten Situation im Lande noch ein statistischer Bevölkerungszuwachs geschlagen. Daraus ergab sich eine Soll-Einwohnerzahl für die jeweils betreffenden Jahre. Die Differenz zu den Ist-Zahlen bedeutete danach entweder Tod oder Gefangenschaft. Tottle beschreibt diese Methode an folgendem Beispiel: „Nimmt man die Angaben der Volkszählung des Jahres 1926 (…) und diejenigen der Erfassung vom 17. Januar 1939 (…) sowie einen jährlichen Wachstumsdurchschnitt vor der Kollektivierung (2,36%), so kann errechnet werden, daß die Ukraine (…) im Zwischenzeitraum dieser beiden Volkszählungen 7,5 Millionen Menschen verloren hat“ (zit. n. Martens, S. 122). Es ist klar, daß jeder halbwegs ernst zu nehmende westliche Wissenschaftler sich gegen eine solche Methode verwahren würde – ginge es nicht um die Sowjetunion. (Die Ukraine hatte im Jahre 1939 nicht einmal die gleichen Grenzen wie 1926, abgesehen von weiteren Faktoren wie Geburtenrückgang infolge des Interventionskrieges, Wechsel von eingetragener Nationalitätszugehörigkeit, Migrationen etc.)
Conquest errechnete auf diese Weise 1961 6 Millionen Hungertote in der Sowjetunion zu Beginn der 30er Jahre und erhöhte diese Zahl 1986 auf 14 Millionen. Für die Moskauer Prozesse allein errechnete er sieben Millionen Gefangene 1937-38 und eine Gesamtzahl von 12 Millionen politischen (!) Gefangenen in den Arbeitslagern im Jahre 1939 (im Jahre 1950 soll es abermals 12 Millionen politische Gefangene in der SU gegeben haben). Die gewöhnlichen Kriminellen haben nach Conquest diese Zahl noch bei weitem übertroffen, so daß in den Arbeitslagern angeblich 25-30 Millionen Gefangene saßen. Von den politischen Gefangenen seien zwischen 1937 und 1939 eine Million ermordet worden, weitere zwei Millionen seien Hungers gestorben. Einschließlich „statistischer Anpassungen“ kam Conquest auf insgesamt 12 Millionen getötete politische Gefangene zwischen 1930 und 1953. Zusammen mit den Hungertoten der dreißiger Jahre ergibt das 26 Millionen Todesopfer auf das Konto der Bolschewiken (Stalin).
Die Phantasiezahlen erschienen in der bürgerlichen Presse der sechziger Jahre als Fakten, die angeblich auf wissenschaftlich-statistischen Methoden beruhen, und – obwohl maßgeblich aus dem Hause CIA/MI5 stammend – wurden bzw. werden sie bis heute von weiten Teilen der westlichen Bevölkerung (einschließlich der Linken) als bare Münze genommen. Gerade von jenen sich als links, progressiv, marxistisch etc. verstehenden Kreisen sollte man annehmen, daß sie die Quellen jeder Berichterstattung über die SU schon aus Prinzip unter die Lupe nehmen anstatt zwanghaft jeden Horrorbericht (insbesondere über die „Stalinzeit“) nachzuäffen.
Doch die Situation verschlimmerte sich noch wesentlich unter Gorbatschow. Bis 1990 konnten Figuren wie Solshenizyn, Sacharow und Medwedew in der Sowjetunion niemanden mit ihren Hirngespinsten beeindrucken. Als dann aber die „freie Presse“ eröffnet wurde, galt alles Oppositionelle und gegen den Sozialismus Gerichtete plötzlich als positiv und berichtenswert – mit desaströsen Folgen: Eine unglaubliche Inflation der angeblich Verhafteten und Getöteten setzte ein, und nach dem Motto „Wer bietet mehr?“ verstieg man sich schon bald in die zig Millionen „Opfer der Kommunisten“. Die Hysterie der von Gorbatschow protegierten „freien Presse“ spülte wieder die Lügen von Conquest und Solshenizyn an die Oberfläche und forderte die Öffnung der Archive.
Gorbatschow öffnet die Archive und die Opferlegende zerbricht
Der offizielle Bericht über das sowjetische Strafsystem
Als im Jahre 1990 schließlich Gorbatschow die Archive des Zentralkomitees der KPdSU für historische Studien öffnen ließ, geschah etwas sehr Merkwürdiges: Die so lange Zeit ersehnte Öffnung der Archive, die allen Todesopferspekulanten die endliche Bestätigung ihrer mühsamen Rechnereien verheißen hatte, wurde plötzlich mit völligem Desinteresse und Grabesstille in den Medien quittiert. Die Forschungsergebnisse, die die russischen Historiker W.N. Semskow, A.N. Dugin und O.W. Chlewnjuk (s.u.) seit 1990 in wissenschaftlichen Fachzeitschriften vortrugen, blieben völlig unbeachtet. Die Forschungsergebnisse gelangten nie über die engen professionellen Kreise der Fachzeitschriften hinaus und waren damit unfähig, die allgemeine Opferhysterie der großen Medien auch nur anzukratzen.
Auch im Westen wurden die Ergebnisse der Archivöffnung ignoriert und fanden sich weder in den großen Blättern der Printmedien noch in irgendeinem Fernsehsender. Die linke Presse dokumentierte ebenfalls wenig sichtbares Interesse an den Forschungsergebnissen, nicht zu reden von offizieller Revidierung bis dato unkritisch kolportierter Schauermärchen zum Thema „Verbrechen des Stalinismus“. Was war geschehen? Der offizielle Bericht über das sowjetische Strafsystem umfaßt beinahe 9.000 Seiten. Es haben viele Autoren daran mitgearbeitet, zu den bekanntesten zählen die genannten russischen Historiker Zemskow, Dugin und Chlewnjuk. Im Westen wurde der Bericht als Ergebnis der Zusammenarbeit von Forschern aus verschiedenen westlichen Ländern vorgestellt. Die Daten, auf die sich Mario Sousa bezieht und die wie eingangs erwähnt das eigentliche Thema dieses Artikels sind, wurden im Jahre 1993 veröffentlicht:
– in der französischen Zeitschrift „L’Histoire“ (Die Geschichte) von Nicholas Werth, Forschungsleiter des französischen Forschungszentrums Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS – Nationales wissenschaftliches Forschungszentrum)
– in der Zeitschrift „American Historical Review“ (Amerikanische Geschichts-betrachtung) von J. Arch Getty, Geschichtsprofessor an der Universität von Kalifornien, Riverside, zusammen mit G.T. Rettersporn, einem CNRS-Forscher, sowie dem russischen Wissenschaftlicher Zemskow vom Institut für russische Geschichte an der russischen Akademie der Wissenschaften
Mario Sousa weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, daß keiner der beteiligten Forscher dem sozialistischen Lager zuzurechnen ist, es sich vielmehr um bürgerliche, zum Teil offen reaktionäre Forscher handelt – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, daß diese ihre wissenschaftliche Integrität über jede ideologische Befangenheit stellen, d.h. keine Datenfälschung im Interesse ihrer ideologischen Orientierung bzw. ihres Geldbeutels betreiben. So geben die Daten reichhaltig Auskunft zu den folgenden Fragestellungen:
– Bestandteile des sowjetischen Strafsystems
– Anzahl der politischen und nicht-politischen Gefangenen-Anzahl der Todesopfer in den Arbeitslagern
– Anzahl der Todesurteile vor 1953, insbesondere in den Säuberungen der Jahre 1937-38
– durchschnittliche Dauer der Gefängnisstrafen
Der Gulag
Ab 1930 zählten zum sowjetischen Strafsystem Gefängnisse, die Arbeitslager und Arbeitskolonien des Gulag sowie spezielle offene Bereiche und Geldstrafen. Die Untersuchungshaft fand in den normalen Gefängnissen statt. Die Strafen bei einem Schuldspruch reichten von einer Geldstrafe in Form eines bestimmten Prozentsatzes vom Lohn für einen definierten Zeitraum über eine Haftstrafe bis hin zum Todesurteil.
In die Arbeitslager wurden jene geschickt, die ein schweres Verbrechen begangen hatten (Mord/Totschlag, Raub, Vergewaltigung, Wirtschaftskriminalität etc.), sowie ein großer Teil der wegen konterrevolutionärer Aktivitäten Verurteilter. Auch jene, die zu mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurden, konnten in Arbeitslager geschickt werden. Umgekehrt konnten Gefangene nach einer bestimmten Zeit im Arbeitslager in eine Arbeitskolonie oder in einen speziellen offenen Bereich überführt werden.
1940 gab es 53 Arbeitslager, in denen die Inhaftierten in großen Gebieten unter strenger Aufsicht arbeiteten. Es gab 425 Arbeitskolonien, d.h. viel kleinere Einheiten als die Arbeitslager, mit einem freieren Reglement und weniger Aufsicht. Hierhin kamen Gefangene mit kürzeren Haftstrafen, deren Verbrechen bzw. politische Vergehen weniger schwerwiegend waren. Sie arbeiteten als gleichberechtigte Bürger in Fabriken oder auf dem Land und bildeten einen Teil der Zivilgesellschaft. In den meisten Fällen gehörte der gesamte Arbeitslohn dem Gefangenen, er war damit seinen Kollegen gleichgestellt. Die speziellen offenen Bereiche waren in der Regel landwirtschaftliche Gebiete, in die Kulaken verbannt wurden, die im Zuge der Kollektivierung enteignet worden waren. Außerdem kamen dorthin auch Gefangene, die minderschwere Verbrechen begangen hatten.
454.000 sind nicht 9 Millionen!
Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die in den jeweiligen Lagern bzw. Gefängnissen zwischen 1934 und 1953 Inhaftierten, darunter den Anteil der wegen politischer Verbrechen Verurteilten sowie alle Todesopfer:
Aus diesen Zahlen lässt sich eine Reihe von Schlussfolgerungen ableiten: Zunächst kann man sie mit den Daten von Robert Conquest vergleichen. Wir erinnern uns, daß nach Conquests Behauptung im Jahre 1939 12 Millionen politische Gefangene in den Arbeitslagern gewesen und davon 3 Millionen in der Zeit von 1937 bis 1939 ums Leben gekommen sind. Und Conquest spricht in diesem Zusammenhang ausschließlich von politischen Gefangenen!
Im Jahre 1950 gab es nach Conquest ebenfalls 12 Millionen politische Gefangene. Wie man nun ersehen kann, stimmen seine Daten nicht einmal entfernt mit den recherchierten Archivdaten überein. 1939 betrug die Gesamtzahl aller Gefangenen in allen Formen des Gewahrsams insgesamt 2 Millionen. Von diesen waren 454.000 politischer Verbrechen für schuldig befunden – nicht 12 Millionen wie Conquest behauptet, und rund 165.000 starben zwischen 1937 und 1939 im Arbeitslager – nicht etwa 3 Millionen; das sind in diesem Zeitraum 5,3% aller Arbeitslagerinsassen. Zum leichteren Überblick:
Insgesamt lebten im angegebenen Zeitraum 2,5 Millionen Sowjetbürger in Gefangenschaft, d.h. 2,4% der erwachsenen Bevölkerung – sicherlich keine geringe Zahl und ein Indikator für die noch bestehenden Widersprüche in der Gesellschaft. Trotzdem lag die Zahl noch unter der der imperialistischen Hauptmacht. Ein Vergleich mit den Daten aus den USA: 1996 gab es im reichsten Land der Welt 5,5 Millionen Gefangene, d.h. 2,8% der erwachsenen Bevölkerung.
Nun zur Frage der Todesopfer. Der prozentuale Anteil der im Arbeitslager Verstorbenen variiert im angegebenen Zeitraum zwischen 0,3% und 18%. Die Todesursachen waren im wesentlichen auf die allgemeine Mangelsituation im Lande zurückzuführen, insbesondere die medizinische Versorgungslage zur Bekämpfung von Epidemien. Das betraf damals allerdings wie erwähnt nicht nur die Sowjetunion, sondern auch alle entwickelten Länder. Erst mit der Erfindung des Penicillin während des Zweiten Weltkrieges wurde ein wirksames Mittel gegen ansteckende Krankheiten geschaffen. Tatsächlich waren es wiederum die Kriegsjahre, in denen die Hälfte aller Todesfälle im untersuchten Zeitraum zu verzeichnen war. Nicht zu vergessen die 25 Millionen Todesopfer, die „in Freiheit“ starben. Der systematische Rückgang der Todesopfer nach dem Zweiten Weltkrieg (nominal und prozentual) ist denn auch auf die verbesserte medizinische Versorgung zurückzuführen.
Todesurteile und Hinrichtungen
Robert Conquest behauptet, die Bolschewiken hätten 12 Millionen politische Gefangene in den Arbeitslagern zwischen 1930 und 1953 getötet. Davon sei 1 Million bei den Säuberungen 1937 und 1938 umgekommen. Solshenizyn spricht gar von zig Millionen Toten in den Arbeitslagern, davon 3 Millionen allein 1937/38. Diese Zahl wurde im Zuge der „Wer bietet mehr?“-Kampagne unter Gorbatschow noch weit übertroffen. So nennt die Russin Olga Schatunowskaja etwa 7 Millionen Tote während der 1937/38 Säuberungen.
Die Daten aus diversen Archiven sprechen hingegen eine andere Sprache: Man muß dabei berücksichtigen, daß die Forscher sich verschiedener Quellen bedienten und diese miteinander abglichen. Dabei waren Doppelzählungen sicherlich nicht zu vermeiden. So wurden beispielsweise nach Dimitri Wolkogonow, von Jelzin als Verantwortlicher für die Sowjetarchive ausersehen, 30.514 Personen bei Militärtribunalen in den Jahren vom 1.10.1936 bis 30.9.1938 zum Tode verurteilt. Eine andere Zahl stammt vom KGB: Nach Informationen, die im Februar 1990 der Presse freigegeben wurden, sind in den 23 Jahren zwischen 1930 und 1953 786.098 Menschen wegen Verbrechen gegen die Revolution zum Tode verurteilt worden, davon 681.692 in den Jahren 1937 und 1938. Diese Zahlen bedürfen allerdings noch der Überprüfung. Nach den vorliegenden Daten aus den Archiven schätzt Mario Sousa die Zahl der tatsächlich vollstreckten Todesurteile 1937-38 auf ca. 100.000. Viele Todesurteile seien in Haftstrafen umgewandelt worden bzw. basierten auf Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung.
Schließlich bleibt noch die Frage nach der durchschnittlichen Dauer der Strafe in einem Arbeitslager. Die antikommunistischen Propagandisten erwecken den Eindruck, daß ein Strafgefangener normalerweise das Arbeitslager nicht überlebte bzw. endlos lange gefangen gehalten wurde. Es zeigt sich jedoch, daß die Strafzeit in der Stalinzeit für den größten Teil der Gefangenen maximal 5 Jahre betrug. So erhielten nach der American Historical Review 82,4% der gewöhnlichen Kriminellen im Jahre 1936 Haftstrafen von bis zu 5 Jahren und 17,6% zwischen 5 und 10 Jahren. Von den politischen Gefangenen erhielten 44,2% Haftstrafen bis zu 5 Jahren und 50,7% zwischen 5 und 10 Jahren. Für 1939 liegen von sowjetischen Gerichten folgende Zahlen vor: 95,9% bis zu 5 Jahre, 4% zwischen 5 und 10 Jahre und 0,1% über 10 Jahre.
Was die Kulaken betrifft, so wurden 381.000 Familien, d.h. 1,8 Millionen Menschen im Zuge der Enteignung in die Verbannung geschickt, wovon der kleinere Teil Arbeit in den Lagern oder Kolonien verrichten mußte. Aufgrund heftiger Klassenauseinandersetzungen zwischen den Kulaken und den ärmeren Bauern, die schließlich darin gipfelten, daß die Großbauern Kolchosfarmen überfielen, Bauern und Parteiarbeiter töteten, Felder anzündeten und Vieh abschlachteten, um Hungersnöte zu provozieren, wurden schließlich 1,8 Millionen der 10 Millionen Kulaken verbannt oder verurteilt. Bei diesen Klassenzusammenstößen waren wie erwähnt 120 Millionen Menschen involviert, so daß mit Sicherheit in diesem Zusammenhang auch manche Ungerechtigkeiten geschehen sind.
Die Säuberungen von 1937
Die Moskauer Prozesse waren der Endpunkt langjähriger Auseinandersetzungen mit Trotzki und seinen Anhängern, die die Beschlüsse des ZK kritisierten, umgingen, sabotierten und grundsätzlich nicht die innerparteilichen Mehrheitsverhältnisse akzeptierten. Das führte schließlich zu Kampfmitteln jenseits offizieller Diskurse: Industriesabotage, Spionage für den potentiellen Kriegsgegner (Deutschland, Japan) und schließlicher Landesverrat (Vereinbarungen zwischen Leo Trotzki und der deutschen Reichswehr bzw. Reichsregierung über die Abtretung großer Landesteile der Sowjetunion im Falle einer Naziinvasion, Umsturz der bestehenden und Ersetzung durch eine trotzkistische Regierung); vgl. u.a. Kahn & Sayers, Drittes Buch, S. 215 ff. Die Untersuchung der Umstände der Ermordung Kirows brachten nach und nach das verschwörerische Netzwerk ans Tageslicht.
Eine weitere Verschwörung fand in der Armee um Marschall Tuchatschewski statt, die eine Säuberung in der Roten Armee nach sich zog. Auch hierzu liegen von Conquest Horrorzahlen vor: Danach wurden 15.000 Offiziere und 20.000 Kommissare (d.h. die Hälfte der angeblich 70.000 Offiziere und politischen Kommissare der Roten Armee) gefangen genommen und entweder hingerichtet oder zu lebenslanger Haft in den Arbeitslagern verurteilt. Der Historiker Roger Reese gibt in seiner Arbeit „The Red Army and the Great Purges“ (Die Rote Armee und die großen Säuberungen) hingegen folgende Fakten: Im Jahre 1937 gab es 144.300 Offiziere und politische Kommissare in Armee und Luftwaffe und 282.300 im Jahre 1939. Während der Säuberungen 1937/38 wurden 34.300 Offiziere und Kommissare aus politischen Gründen entlassen. Bis zum Mai 1940 wurden allerdings 11.596 rehabilitiert und wieder in ihre Posten eingesetzt. Das heißt, zu den Entlassenen zählten 22.705 Offiziere und Kommissare (davon 13.000 Armeeoffiziere, 4.700 Luftwaffenoffiziere und 5.000 politische Gefangene). Das sind insgesamt 7,7% aller Offiziere und Kommissare, wovon wiederum nur ein geringer Teil als Verräter verurteilt wurde, während der Rest ins zivile Leben zurückkehrte.
Insgesamt wird die Verfolgung der Konterrevolution als Klassenfrage unter anderem anhand der Zugehörigkeit politischer Gefangener zu bestimmten Berufsgruppen deutlich. So nennt Medwedew u.a.: Juristen, Verwalter im Erziehungswesen, Biologen, technische Intelligenz, Betriebsleiter, Chefingenieure, Maler, Schauspieler, Musiker, Architekten und Filmschaffende – klein- bis großbürgerliche Intelligenz. Das Wesen der „Repression“ hat sich demnach von Lenin zu Stalin nicht geändert – daher im übrigen auch der Hinweis bürgerlicher Kritiker, bereits Lenin habe Verrat an den marxistischen Prinzipien begangen, Stalin habe das Ganze nur noch ins Monströse gesteigert. Tatsächlich war und ist die Bekämpfung der Konterrevolution die zentrale Klassenfrage, die Machtfrage der proletarischen Revolution, die Frage von Sein oder Nichtsein einer sozialistischen Gesellschaft. Sie ist mithin keine moralische Frage, zumal eine Revolution der denkbar ungünstigste Zeitpunkt ist, metaphysische Überlegungen über den Wert eines Menschenlebens anzustellen. Das mag zynisch klingen, ist darum aber weder weniger wahr noch wirklich: Der Imperialismus tötet täglich in der Dimension von Millionen; kein Mittel darf daher gescheut werden, diese Mordmaschinerie WIRKSAM außer Kraft zu setzen – damit die Menschheit endlich ihre Geschichte selbst in die Hand nehmen kann und alsbald KEINE Opfer mehr zu zählen sind.
Andrea Schön, Dortmund
P.S. Noch ein Hinweis von Kenneth Neill Cameron, ehemaliger Professor an der New York University: In der Pariser Commune von 1870 war die Arbeiterklasse sich noch nicht der Brutalität bewußt, mit der die Bourgeoisie versucht, die verlorene Macht zurück zu gewinnen – wenn’s sein muß, mit Hilfe ihrer erbitterten Feinde. Das Ergebnis: 30.000 Leichen säumten die Straßen von Paris, Bürgertum und Monarchie triumphierten. Dieser Erfahrung sollte man sich auch in Zukunft bei einem erneuten „Anlauf“ wieder erinnern.
Literatur:
Cameron, Kenneth Neill: „Stalin – Man of Contradiction“ (Stalin – Mann der Widersprüche), NC Press Limited, Toronto 1987
Martens, Ludo: „Stalin anders betrachtet“, EPO VZW Verlag, Berchem/Belgien 1998
Sayers, Michael und Kahn, Albert E.: „Die große Verschwörung“, Verlag Volk und Welt, 1949
Sousa, Mario: „Lies concerning the history of the Soviet Union“, in: Proletären (Schweden), April 1998
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Erstveröffentlichung am 7-2002 auf „offen-siv“
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